Wut und Liebe: Das Theater braucht eine Renaissance
Salzburg-Bilanz II. In ihrer letzten Saison glückte Schauspieldirektorin Bettina Hering mehr als davor. Doch die große Form fehlte.
Kulturelles Missverständnis des Jahres: Eine Protestaktion der Letzten Generation fügte sich bei der „Jedermann“-Premiere im Großen Festspielhaus so gut in die Inszenierung, dass alle glaubten, sie gehöre dazu. Was ja auch etwas über den Stil Michael Sturmingers sagt, der den „Jedermann“heuer zum dritten Mal neu in Szene setzte. Diesmal, nach den Gender-Spielereien 2021, als Endzeitdrama. Das vor allem dank Michael Maertens in der Titelrolle nicht nur öd war. Doch Marina Davydova, die ab 2024 das Schauspiel leitet, wird für das alte Mysterienspiel wohl eine neue Regie suchen.
Davydova folgt auf Bettina Hering, die in den sieben Jahren ihrer Leitung besonders auf postmoderne Formen gesetzt hat, etwa auf Dekonstruktion und „Überschreibungen“bekannter Stücke. Nach den herben Flops 2022, etwa mit einem der Erotik entkleideten „Reigen“und einer auf Missbrauch umgedeuteten „Iphigenie“, konsolidierte sie ihr Angebot heuer etwas. Am umstrittensten war „Nathan der Weise“, das sie der Theatermaschine von Ulrich Rasche unterwarf, in der der aufklärerische Gehalt des Stückes nicht ohne Absicht zerrieben wurde: „Dröhnen statt Denken“, resümierte „Presse“-Kritikerin Anne-Catherine Simon, viele Besucher klagten über Langeweile im zerhackten Sprachfluss auf der Pernerinsel.
Dramatisierung von Roman und Film
Ebenfalls recht plakativ und klischeehaft, aber auch gewitzt gab sich eine Dramatisierung von Mareike Fallwickls Roman „Die Wut, die bleibt“: „ein starkes Tendenzstück, das Männer blamieren und Frauen zum Widerstand aufrufen will“, schrieb Norbert Mayer. Engagiert jedenfalls und gesellschaftspolitisch relevant. Wie auch Karin Henkels Dramatisierung von „Amour“, Michael Hanekes Film über einen alten Mann, der seine demente Frau pflegt und schließlich tötet. Aus dem intimen Drama machte die Theaterregisseurin ein drastisches, grell mit interaktiven Passagen angereichertes Stück, das dennoch bestürzend und niederschmetternd wirkte, wie viele Rezensenten festhielten.
Kaum deprimierend, oft sogar stimmungsaufhellend wirkte das Experiment in der Szene Salzburg: Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“, gespielt von den kognitiv beeinträchtigten Schauspielern des Schweizer Theater Hora. Das doktrinäre Lehrstück, verschmitzt verfremdet und hinterfragt: So kann Dekonstruktion erhellend wirken.
Als sechstes Stück eine Innovation: ein wortloses, wildes Tanzstück, nämlich „Into the Hairy“, ein Gastspiel der L-E-V Dance Company, übernommen vom Montpellier Danse Festival. Es wurde bejubelt. Dennoch fragt sich, ob es sinnvoll ist, das Spektrum der Festspiele um das – schon auf vielen Festivals gut repräsentierte – Genre Tanz zu erweitern, noch dazu mit einem nicht selbst produzierten Stück. Wie überhaupt der Theatersektor in Salzburg an Unverwechselbarkeit gewinnen sollte. Was wohl am besten mit einer Rückkehr großer Formen und Stücke gelingen könnte: Einst galt das Schauspiel in Salzburg als der Oper beinahe ebenbürtig, fand sogar Platz in der Felsenreitschule, man denke nur an die gewaltigen Shakespeare-Inszenierungen von Peter Stein. Vielleicht gelingt der neuen Bereichsleiterin Marina Davydova in diesem Sinn eine Renaissance?