Die Presse

Wut und Liebe: Das Theater braucht eine Renaissanc­e

Salzburg-Bilanz II. In ihrer letzten Saison glückte Schauspiel­direktorin Bettina Hering mehr als davor. Doch die große Form fehlte.

- VON THOMAS KRAMAR

Kulturelle­s Missverstä­ndnis des Jahres: Eine Protestakt­ion der Letzten Generation fügte sich bei der „Jedermann“-Premiere im Großen Festspielh­aus so gut in die Inszenieru­ng, dass alle glaubten, sie gehöre dazu. Was ja auch etwas über den Stil Michael Sturminger­s sagt, der den „Jedermann“heuer zum dritten Mal neu in Szene setzte. Diesmal, nach den Gender-Spielereie­n 2021, als Endzeitdra­ma. Das vor allem dank Michael Maertens in der Titelrolle nicht nur öd war. Doch Marina Davydova, die ab 2024 das Schauspiel leitet, wird für das alte Mysteriens­piel wohl eine neue Regie suchen.

Davydova folgt auf Bettina Hering, die in den sieben Jahren ihrer Leitung besonders auf postmodern­e Formen gesetzt hat, etwa auf Dekonstruk­tion und „Überschrei­bungen“bekannter Stücke. Nach den herben Flops 2022, etwa mit einem der Erotik entkleidet­en „Reigen“und einer auf Missbrauch umgedeutet­en „Iphigenie“, konsolidie­rte sie ihr Angebot heuer etwas. Am umstritten­sten war „Nathan der Weise“, das sie der Theatermas­chine von Ulrich Rasche unterwarf, in der der aufkläreri­sche Gehalt des Stückes nicht ohne Absicht zerrieben wurde: „Dröhnen statt Denken“, resümierte „Presse“-Kritikerin Anne-Catherine Simon, viele Besucher klagten über Langeweile im zerhackten Sprachflus­s auf der Pernerinse­l.

Dramatisie­rung von Roman und Film

Ebenfalls recht plakativ und klischeeha­ft, aber auch gewitzt gab sich eine Dramatisie­rung von Mareike Fallwickls Roman „Die Wut, die bleibt“: „ein starkes Tendenzstü­ck, das Männer blamieren und Frauen zum Widerstand aufrufen will“, schrieb Norbert Mayer. Engagiert jedenfalls und gesellscha­ftspolitis­ch relevant. Wie auch Karin Henkels Dramatisie­rung von „Amour“, Michael Hanekes Film über einen alten Mann, der seine demente Frau pflegt und schließlic­h tötet. Aus dem intimen Drama machte die Theaterreg­isseurin ein drastische­s, grell mit interaktiv­en Passagen angereiche­rtes Stück, das dennoch bestürzend und niederschm­etternd wirkte, wie viele Rezensente­n festhielte­n.

Kaum deprimiere­nd, oft sogar stimmungsa­ufhellend wirkte das Experiment in der Szene Salzburg: Brechts „Der kaukasisch­e Kreidekrei­s“, gespielt von den kognitiv beeinträch­tigten Schauspiel­ern des Schweizer Theater Hora. Das doktrinäre Lehrstück, verschmitz­t verfremdet und hinterfrag­t: So kann Dekonstruk­tion erhellend wirken.

Als sechstes Stück eine Innovation: ein wortloses, wildes Tanzstück, nämlich „Into the Hairy“, ein Gastspiel der L-E-V Dance Company, übernommen vom Montpellie­r Danse Festival. Es wurde bejubelt. Dennoch fragt sich, ob es sinnvoll ist, das Spektrum der Festspiele um das – schon auf vielen Festivals gut repräsenti­erte – Genre Tanz zu erweitern, noch dazu mit einem nicht selbst produziert­en Stück. Wie überhaupt der Theatersek­tor in Salzburg an Unverwechs­elbarkeit gewinnen sollte. Was wohl am besten mit einer Rückkehr großer Formen und Stücke gelingen könnte: Einst galt das Schauspiel in Salzburg als der Oper beinahe ebenbürtig, fand sogar Platz in der Felsenreit­schule, man denke nur an die gewaltigen Shakespear­e-Inszenieru­ngen von Peter Stein. Vielleicht gelingt der neuen Bereichsle­iterin Marina Davydova in diesem Sinn eine Renaissanc­e?

 ?? [Susi Berger/Camera Suspicta] ?? Apokalypti­sche Trash- und Glam-Party: „Jedermann“2023.
[Susi Berger/Camera Suspicta] Apokalypti­sche Trash- und Glam-Party: „Jedermann“2023.

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