Beispiellose Pleitewelle im Handel
Sinkende Kaufkraft und stagnierende Umsätze plagen die österreichischen Händler. 6400 Betriebe schlossen seit Jahresbeginn.
Wien. Die Branche hat sich über die vergangenen Jahre den Ruf erarbeitet, viel zu jammern. Tatsächlich haben die heimischen Händler derzeit aber allen Grund dazu. Spektakuläre Großinsolvenzen wie jene der Möbelkette Kika/Leiner und des Schuhhändlers Salamander sind nur die Spitze des Eisberges.
Allein in den ersten sechs Monaten des Jahres mussten im Einzelhandel 6400 Betriebe schließen, eine Zunahme von 141 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum 2021. 480 Handelsbetriebe – darunter mehrere große Filialsysteme – meldeten von Jänner bis Juni zudem Insolvenz an, wie eine Sonderauswertung des Kreditschutzverbandes 1870 zeigt.
Die gestiegenen Finanzierungskosten würden die Branche bei gleichzeitig eingebrochener Konsumlaune extrem belasten, sagte Rainer Trefelik, Handelssprecher der Wirtschaftskammer (WKO) bei einem Hintergrundgespräch am Montagabend: „Wir müssen die Schere zwischen ausufernden Kosten und der Umsatzentwicklung schnellstmöglich wieder schließen. Sonst werden noch deutlich mehr Geschäfte zusperren müssen.“Am Konjunkturhimmel würden sich viele dunkle Wolken zeigen, „teilweise sogar Gewitter“, so Trefelik.
Absätze unter Niveau von 2019
Tatsächlich sind die Aussichten für die Branche alles andere als rosig, wie eine aktuelle Auswertung im Auftrag der WKO zeigt. Seit
nunmehr neun Monaten in Serie verbucht der Handel in Österreich ein reales Minus. Nominell gab es im ersten Halbjahr 2023 zwar ein leichtes Plus von 1,9 Prozent. Inflationsbereinigt ergibt sich daraus aber ein Minus von vier Prozent. Sogar im Vergleich zum Vorkrisenniveau von 2019 ging das Absatzvolumen des heimischen Einzelhandels um 0,8 Prozent zurück. „Damit liegt die reale Einzelhandelsentwicklung in Österreich das sechste Halbjahr in Folge unter dem Durchschnitt der 27 EU-Länder“, sagt Studienautor Peter Voithofer vom Institut für Österreichs Wirtschaft. Eine alarmierende Bilanz.
Nominell erwirtschaftete der Lebensmittelhandel im ersten Halbjahr zwar ein Umsatzplus von 9,5 Prozent, abzüglich der gestiegenen Kosten sind die Absätze aber auch in der zuletzt politisch ins Visier geratenen Branche um 1,9 Prozent zurückgegangen. Noch deutlich härter hat es den Elektro- (minus 9,9 Prozent) und den Möbelhandel (minus
27,2 Prozent) getroffen. Die Umsatzeinbrüche im Möbelhandel haben weniger mit der Pleite von Kika/Leiner zu tun – die betroffenen Filialen haben erst mit Ende Juli geschlossen –, sondern vielmehr mit der allgemein eingetrübten konjunkturellen Situation: Wegen der steigenden Zinsen wird weniger gebaut, was die Umsätze im Einrichtungssektor wohl auch in den kommenden Jahren weiter hemmen wird.
Tatsächliche Arbeitszeit rückläufig
Gilt Österreich generell als „Teilzeitrepublik“, stimmt das für den Handel ganz besonders. 55 Prozent der im Einzelhandel und 25 Prozent der im Großhandel Beschäftigten arbeiten in Teilzeit, Tendenz steigend. Der Wunsch nach Teilzeit gehe immer mehr von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus, sagt WKO-Funktionärin Sonja Marchhart. „Gerade in kleineren Filialen erschwert das die Erstellung von Dienstplänen ungemein.
Wir würden uns wünschen, dass wieder mehr Mitarbeiter auf Vollzeit aufstocken.“
Seit Corona sei die durchschnittlich geleistete Arbeitszeit im Handel um eineinhalb Stunden pro Woche zurückgegangen, so Marchhart. Politisch würden völlig falsche Anreize gesetzt, die eher zu einer Verkürzung als zu einer Ausweitung der Arbeitszeit führten, kritisiert man in der Branche.
Mit einen Grund für die schlechte wirtschaftliche Situation des Handels sieht Spartenobmann Rainer Trefelik in den hohen Lohnabschlüssen des vergangenen Jahres, die vor allem Betrieben in beratungsintensiven Branchen zu schaffen machen. „Wir haben hier schon letztes Jahr die Grenzen des Zumutbaren überschritten.“Die Konsequenz zeige sich nun im katastrophalen wirtschaftlichen Zustand der Branche.
Lohnrunde wirft Schatten voraus
Die nächste Lohnrunde steht für den Handel im Herbst vor der Tür. Dabei darf sich die Arbeitgeberseite erneut auf hohe Forderungen der Gewerkschaft einstellen. Derzeit liegt die als Bemessungsgrundlage dienende rollierende Inflation bei 9,7 Prozent. Dieser Wert dürfte bis zum Verhandlungsbeginn im Oktober zwar noch etwas zurückgehen, große Hoffnungen auf ein Entgegenkommen seitens der Gewerkschafter brauchen sich die Arbeitgeber trotz Forderungen von Ökonomen zur Lohnzurückhaltung aber wohl nicht zu machen.
Es wird Fingerspitzengefühl gefragt sein auf beiden Seiten: Der Handel gilt in puncto Löhne als alles andere als attraktiv. Sollte sich wegen ausufernder Personalkosten aber die Pleitewelle fortsetzen, ist niemandem geholfen. Am allerwenigsten den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die dadurch ihren Job verlieren.
Nach der Rekordbeschäftigung im vergangenen Jahr nimmt die Beschäftigungsdynamik im Handel zuletzt wieder ab. 20.100 offenen Stellen stehen derzeit rund 38.000 Arbeitslose im Handel gegenüber.