Gelegenheit macht Liebe: Wie Schönsaufen funktioniert
Das Phänomen ist als real bekannt. Aber Psychologen plagen sich, es nachzuweisen. Nun kommt eine Studie der Wahrheit endlich näher.
Im Wein liegt die Wahrheit: Das ist eine alte Weisheit, sie trifft auf trunken Gesagtes seit jeher zu. Aber ebenso epistemisch ehrwürdig ist das Wissen um die Falschheit, zu der uns Wein in der ästhetischen Beurteilung führt: Wir können uns potenzielle Partner schöntrinken. Eine Person des sexuell präferierten Geschlechts, die wir im Alltag keines Blickes würdigen, erscheint uns in illuminiertem Zustand attraktiv. Ein universales Phänomen, in unserer Lingua franca als „beer goggles“bekannt : durch die „Bierbrille“schauen. Es scheint also nur eine leichte Pflichtübung für Psychologen zu sein, das Phänomen wissenschaftlich nachzuweisen. Allein: Sie schaffen es nicht.
Untersuchungen gibt es zuhauf. Aber sie zeigen meist nur einen überraschend schwachen Effekt, oft auch gar keinen. Das hat eine Metastudie von 2018 zusammengefasst. Ihre Autoren, Molly Bowdring von Stanford und ihr Doktorvater, Michael Sayette, haben den Fehler ihrer Kollegen erkannt: Man setzte die Probanden im nüchternen Labor unter Alkohol, zeigte ihnen Porträtfotos von Menschen mit neutralem Gesichtsausdruck und bat um ihre Wertung – sorry, aber so kann das nicht funktionieren.
Die beiden Forscher haben sich nun um ein authentischeres Setting bemüht: Sie luden jeweils zwei Kumpel ein (bei Männern ist der Effekt erfahrungsgemäß stärker), servierten ihnen Wodka Cranberry und in den Kontrollgruppen Saft. Dann ließ man sie gesondert Frauen bewerten (respektive Männer bei schwulen Probanden). Nicht auf Fotos, sondern auf Videos von fröhlichen Runden in Bars.
Vor allem aber: Man stellte ihnen am Anfang (fälschlicherweise) in Aussicht, dass sie mit irgendeiner der Schönheiten in einem späteren Experiment zusammentreffen könnten. Explizit
daran erinnert wurden sie bei einer zweiten Aufgabe: Hier konnten sie eine Person für ein künftiges Kennenlernen auswählen – wenn sie wollten. Das taten sie unter Alkohol fast doppelt so oft wie mit Safthintergrund. Sie haben sich also „Mut angetrunken“.
Bei der Bewertungsrunde aber hatten es die Versuchsleiter verabsäumt, die Saufkumpanen an die verlockende Perspektive zu erinnern. Prompt konnten auch sie das Schönsaufen nicht nachweisen. Den Verdacht, dass es an diesem Fehler im Studiendesign lag, hegen sie am Ende ihres Fachartikels selbst. Dennoch haben sie ihn ohne neuen Versuch im „Journal of Studies on Alcohol and Drugs“publiziert. Dabei hatten sie die plausible Kausalkette löblich luzide skizziert: Viele sind überzeugt, dass Trinken Lust und Chance auf Sex steigert. Sobald diese Erwartungen in geselliger Runde „aktiviert“werden, sind wir darauf „eingestellt“, die „Affordanz“der Umstehenden wahrzunehmen. Sprich: Wir wittern die Gelegenheit zur Sexualbeziehung. Und einmal auf die Idee gebracht, empfinden wir die Zielsubjekte als attraktiver.
Oder ist es noch einfacher, als es sich die Forscher denken? Wir wissen ja: je später der Abend, desto schöner die Gäste. Weil der Pegel am höchsten ist? Vielleicht auch nur, weil die attraktivsten Subjekte schon an Flirt-Konkurrenten vergeben sind. Also hübschen wir uns, um nicht zu verzweifeln, die verbliebenen mental auf.
Vor zu viel Alkohol ist zu warnen, das macht auch Molly Bowdring. Aber ihrem Argument können wir nicht folgen: Wie sich „Intentionen“beim Trinken ändern, möge „kurzfristig reizvoll“wirken, sei aber „langfristig schädlich“. Worin liegt der langfristige Schaden einer ästhetischen Fehleinschätzung am Abend? Doch meist nur im Erschrecken, wenn man morgens neben einem Wesen aufwacht, das nüchtern betrachtet weder Venus noch Adonis gleicht. Und mit diesem Risiko können viele recht gut leben.
Wir wittern die Gelegenheit zur Sexualbeziehung. Und einmal auf die Idee gebracht, empfinden wir die Zielsubjekte als attraktiver.