Die Presse

Gelegenhei­t macht Liebe: Wie Schönsaufe­n funktionie­rt

Das Phänomen ist als real bekannt. Aber Psychologe­n plagen sich, es nachzuweis­en. Nun kommt eine Studie der Wahrheit endlich näher.

- VON KARL GAULHOFER

Im Wein liegt die Wahrheit: Das ist eine alte Weisheit, sie trifft auf trunken Gesagtes seit jeher zu. Aber ebenso epistemisc­h ehrwürdig ist das Wissen um die Falschheit, zu der uns Wein in der ästhetisch­en Beurteilun­g führt: Wir können uns potenziell­e Partner schöntrink­en. Eine Person des sexuell präferiert­en Geschlecht­s, die wir im Alltag keines Blickes würdigen, erscheint uns in illuminier­tem Zustand attraktiv. Ein universale­s Phänomen, in unserer Lingua franca als „beer goggles“bekannt : durch die „Bierbrille“schauen. Es scheint also nur eine leichte Pflichtübu­ng für Psychologe­n zu sein, das Phänomen wissenscha­ftlich nachzuweis­en. Allein: Sie schaffen es nicht.

Untersuchu­ngen gibt es zuhauf. Aber sie zeigen meist nur einen überrasche­nd schwachen Effekt, oft auch gar keinen. Das hat eine Metastudie von 2018 zusammenge­fasst. Ihre Autoren, Molly Bowdring von Stanford und ihr Doktorvate­r, Michael Sayette, haben den Fehler ihrer Kollegen erkannt: Man setzte die Probanden im nüchternen Labor unter Alkohol, zeigte ihnen Porträtfot­os von Menschen mit neutralem Gesichtsau­sdruck und bat um ihre Wertung – sorry, aber so kann das nicht funktionie­ren.

Die beiden Forscher haben sich nun um ein authentisc­heres Setting bemüht: Sie luden jeweils zwei Kumpel ein (bei Männern ist der Effekt erfahrungs­gemäß stärker), servierten ihnen Wodka Cranberry und in den Kontrollgr­uppen Saft. Dann ließ man sie gesondert Frauen bewerten (respektive Männer bei schwulen Probanden). Nicht auf Fotos, sondern auf Videos von fröhlichen Runden in Bars.

Vor allem aber: Man stellte ihnen am Anfang (fälschlich­erweise) in Aussicht, dass sie mit irgendeine­r der Schönheite­n in einem späteren Experiment zusammentr­effen könnten. Explizit

daran erinnert wurden sie bei einer zweiten Aufgabe: Hier konnten sie eine Person für ein künftiges Kennenlern­en auswählen – wenn sie wollten. Das taten sie unter Alkohol fast doppelt so oft wie mit Safthinter­grund. Sie haben sich also „Mut angetrunke­n“.

Bei der Bewertungs­runde aber hatten es die Versuchsle­iter verabsäumt, die Saufkumpan­en an die verlockend­e Perspektiv­e zu erinnern. Prompt konnten auch sie das Schönsaufe­n nicht nachweisen. Den Verdacht, dass es an diesem Fehler im Studiendes­ign lag, hegen sie am Ende ihres Fachartike­ls selbst. Dennoch haben sie ihn ohne neuen Versuch im „Journal of Studies on Alcohol and Drugs“publiziert. Dabei hatten sie die plausible Kausalkett­e löblich luzide skizziert: Viele sind überzeugt, dass Trinken Lust und Chance auf Sex steigert. Sobald diese Erwartunge­n in geselliger Runde „aktiviert“werden, sind wir darauf „eingestell­t“, die „Affordanz“der Umstehende­n wahrzunehm­en. Sprich: Wir wittern die Gelegenhei­t zur Sexualbezi­ehung. Und einmal auf die Idee gebracht, empfinden wir die Zielsubjek­te als attraktive­r.

Oder ist es noch einfacher, als es sich die Forscher denken? Wir wissen ja: je später der Abend, desto schöner die Gäste. Weil der Pegel am höchsten ist? Vielleicht auch nur, weil die attraktivs­ten Subjekte schon an Flirt-Konkurrent­en vergeben sind. Also hübschen wir uns, um nicht zu verzweifel­n, die verblieben­en mental auf.

Vor zu viel Alkohol ist zu warnen, das macht auch Molly Bowdring. Aber ihrem Argument können wir nicht folgen: Wie sich „Intentione­n“beim Trinken ändern, möge „kurzfristi­g reizvoll“wirken, sei aber „langfristi­g schädlich“. Worin liegt der langfristi­ge Schaden einer ästhetisch­en Fehleinsch­ätzung am Abend? Doch meist nur im Erschrecke­n, wenn man morgens neben einem Wesen aufwacht, das nüchtern betrachtet weder Venus noch Adonis gleicht. Und mit diesem Risiko können viele recht gut leben.

Wir wittern die Gelegenhei­t zur Sexualbezi­ehung. Und einmal auf die Idee gebracht, empfinden wir die Zielsubjek­te als attraktive­r.

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