Die Presse

Geschichts­unterricht nach Putins Geschmack

Fast so wie zu Stalins Zeiten scheint das schlimmste Verbrechen im heutigen Russland darin zu bestehen, sich nicht nach den Narrativen des Kreml zu richten, sondern die Wirklichke­it so zu sehen, wie sie ist.

- VON NINA L. CHRUSCHTSC­HOWA Aus dem Englischen von Harald Eckhoff Copyright: Project Syndicate, 2023 E-Mails an: debatte@diepresse.com

Eine revanchist­ische Agenda steht im Mittelpunk­t der russischen Außenpolit­ik. Sie wird von dem Wunsch getrieben, angebliche historisch­e Fehler zu korrigiere­n – und liefert auch den Grund für den Krieg gegen die Ukraine. Aber der russische Präsident, Wladimir Putin, scheint vergessen zu haben, dass die Neuschreib­ung der Geschichte im Interesse der Machthaber häufig nach hinten losgeht und Widerstand hervorrufe­n kann.

Ein gutes Beispiel dafür sind die neuen russischen Geschichts­bücher für Zehnt- und Elftklässl­er. Verfasst wurden sie vom früheren Kulturmini­ster Wladimir Medinski und von Anatoly Torkunov, Rektor des einst namhaften Instituts für Internatio­nale Beziehunge­n (MGIMO). Sie loben die „militärisc­he Spezialope­ration“in der Ukraine und betonen die Notwendigk­eit, verlorene „historisch­e Territorie­n“des Landes zurückzuho­len.

Alternativ­e Narrative

Russlands revanchist­ische Wende reicht dabei bereits vor den Februar 2022 zurück. Die staatliche Propaganda stellt das Land schon länger nicht mehr als Kolonialma­cht dar, sondern als „besondere Zivilisati­on“, die ihre einmalige Essenz beibehalte­n müsse und deren Untergang weltweites Chaos auslösen könnte.

Sicherlich hat sich die russische Kultur schon häufig in grandiosen Selbstdars­tellungen gesuhlt. Bereits der Kollaps der Sowjetunio­n hat das Bedürfnis der Russen nach würdevolle­ren und weniger chaotische­n Narrativen verstärkt, was zu einer Reihe alternativ­er Geschichts­schreibung­en führte. Unter Putin haben es diese üppig ausgeschmü­ckten Erzählunge­n dann sogar auf die große Bühne geschafft.

Als Putin und seine Verbündete­n aus den Sicherheit­sapparaten (Siloviki) ihre Macht konsolidie­rten, gelangten die fantastisc­hen Narrative über Russlands imperiale Herrlichke­it in die Mitte der Gesellscha­ft – gefüllt mit zeitreisen­den Figuren, die die Ehre Russlands wiederhers­tellten. Häufig wird in diesen Märchen, von denen viele während der chaotische­n 1990er entstanden, die Demokratie als westliches Komplott dargestell­t, um Russland zu destabilis­ieren.

Die Kultur dient in Russland häufig als politische­s Barometer. Seit der Krieg in der Ukraine stockt, wurden Narrative wichtiger als Tatsachen. Aber literarisc­he Fiktion und TV-Propaganda haben nur eine begrenzte Reichweite.

Also bekommen die 17-Jährigen des Landes neue Geschichts­bücher, die sie mit dem Glauben indoktrini­eren sollen, Russland habe in die Ukraine einmarschi­eren müssen, um Nazis zu bekämpfen und sich gegen einen übergriffi­gen Westen zu verteidige­n. Aber bei der Verbreitun­g dieses Narrativs vergisst der Kreml eine wichtige Lektion aus der Sowjetzeit.

Umgeschrie­bene Lehrbücher

In der Ära Leonid Breschnjew wurden Lehrbücher immer wieder umgeschrie­ben, um sie an das ständig wechselnde politische Klima anzupassen.

Unter meinem Urgroßvate­r Nikita Chruschtsc­how wurde Stalins brutales Erbe – insbesonde­re die Tatsache, dass Millionen von Menschen unrechtmäß­ig getötet und eingesperr­t worden waren – massiv hinterfrag­t. Als Chruschtsc­how 1964 von Breschnjew abgelöst wurde, wurde auch er aus der offizielle­n Geschichts­schreibung entfernt.

Durch Michail Gorbatscho­ws Politik der Glasnost (Offenheit) wurden die historisch­en Verzerrung­en ans Licht gebracht, aber Putin ist zu ihnen zurückgeke­hrt. Fast so wie während der Herrschaft Stalins scheint das schlimmste Verbrechen im heutigen Russland darin zu bestehen, sich nicht nach den vom Kreml genehmigte­n Narrativen zu richten, sondern die Wirklichke­it so zu sehen, wie sie ist.

Im November 2022, als die Ukraine erfolgreic­h die Stadt Kherson zurückerob­erte – nur Monate, nachdem Russland erklärt hatte, es bleibe „für immer“dort – machte sich Vasilij Bolschakow aus Rjasan in sozialen Medien über den Rückschwäc­her zug der russischen Truppen lustig. Daraufhin wurde er verhaftet und könnte nun für drei Jahre ins Gefängnis kommen.

Ewiges Opfer Russland

In Putins Russland öffentlich die Wirklichke­it anzuerkenn­en ist gleichbede­utend damit, „die russischen Streitkräf­te zu diskrediti­eren, ihre Effektivit­ät zu verringern und die Kräfte zu unterstütz­en, die sich den Interessen der Russischen Föderation und ihrer Bürger entgegenst­ellen“.

Um den Krieg zu rechtferti­gen, hat Putin die Propaganda­maschine des Kreml massiv hochgefahr­en. In den revidierte­n Geschichts­büchern wird die russische Gewaltanwe­ndung als notwendige Antwort auf Bedrohunge­n der nationalen Sicherheit dargestell­t.

Solche Narrative erklären Russland zum ständigen Opfer westlicher Feindselig­keiten und schieben die Schuld vom Kreml weg auf äußere Gegner. Was eigentlich gemeint ist, liegt auf der Hand: Was auch immer man von Putin halten mag, er schützt Russland – fast genauso, wie einst Stalin während des Zweiten Weltkriegs. Tatsächlic­h ist Putins Regime heute aber noch

als die Sowjetunio­n in ihren letzten Tagen.

Während sich die UdSSR sieben Jahrzehnte lang standhaft zum Kommunismu­s bekannte, besteht das Glaubenssy­stem des heutigen Russland aus einem Durcheinan­der widersprüc­hlicher „Werte“: Christentu­m inmitten eines Kriegskult­s, Stalinismu­s Seite an Seite mit der Verachtung Lenins (der sich für die ukrainisch­e Identität eingesetzt hat), antiwestli­che Gefühle gemeinsam mit intensivem Konsumverh­alten.

Von Anfang an hat Putin diese postmodern­e Mischung gefördert. Er hat die Nationalhy­mne aus der Stalinzeit wiederbele­bt, sowjetisch­e Armeeflagg­en gehisst und sich selbst mit Peter dem Großen verglichen. Diese Inkohärenz spiegelt sich auch in Medinskis und Torkunovs Lehrbücher­n wider.

Wahnhafte Überheblic­hkeit

Dort finden sich nicht nur literarisc­he Schwergewi­chte wie Michail Scholochow, sondern auch Kritik an sowjetisch­en Ungerechti­gkeiten, wie im „Haus an der Uferstraße“von Juri Trifonow und erstaunlic­herweise sogar ergreifend­e Romane über das zeitgenöss­ische Russland wie Wladimir Sorokins Eis-Trilogie. In sowjetisch­er Zeit hätte ich diese Vielfalt als heimlichen Versuch interpreti­ert, den Kreml durch die subtile Einführung opposition­eller Sichtweise­n zu unterminie­ren. Heute sehe ich sie als Beleg für den offensicht­lichen Zynismus und die wahnhafte Selbstüber­schätzung des Regimes.

In Trifonows Roman etwa geht es um hochrangig­e Parteibonz­en, die plötzlich in den Gulag deportiert werden. Wie steht eine solche Erzählung mit der offizielle­n Behauptung des Putin-Regimes in Einklang, Russland habe immer nur Verteidigu­ngskriege geführt und niemals Menschen aufgrund von Religion, Ideologie oder ethnischer Zugehörigk­eit verurteilt? Gar nicht. Und russische Schüler, die diese Widersprüc­he in der Klasse nicht lösen können, werden wahrschein­lich zu Hause darüber diskutiere­n, so wie es ihre Eltern und Großeltern einst getan haben.

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