Ein unerwünschter Kuss ist lästig, aber noch lang kein Missbrauch
Die jüngste Fußball-WM war ein Fest der starken Frauen. Dann benimmt sich ein Mann daneben – und schon geht es wieder um die weibliche Opferrolle.
Luis Rubiales muss sich eine andere Beschäftigung suchen; Präsident des spanischen Fußballverbands kann er nicht bleiben. Der Weltfußballverband Fifa hat ihn vorerst für drei Monate suspendiert, das Sportgericht seiner Heimat wird ihn demnächst wohl abberufen. Sogar die spanische Staatsanwaltschaft will aktiv werden.
Auch wer sich kein bisschen für Fußball interessiert, könnte von Señor Rubiales gehört haben. Kurz bevor er nun in der Versenkung verschwinden wird, ist der Mann noch schnell weltweit bekannt geworden. Sein Vergehen: Er hat die Nationalspielerin Jennifer Hermoso vor aller Augen auf den Mund geküsst. Mutmaßlich ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Im Freudentaumel nach dem Sieg der Spanierinnen im Finale der Weltmeisterschaft.
Das gehört sich nicht, keine Frage. Umstandsloses Herumbusseln ist zum Glück schon seit geraumer Zeit nicht mehr angesagt. Allerdings könnte man ins Treffen führen, dass sich Rubiales in einer emotionalen Ausnahmesituation befand. Den Sieg bei einer Fußball-WM feiert man ja selbst als Spanier nicht jeden Tag.
Aber mildernde Umstände werden in diesem Fall nicht berücksichtigt. Über dem Präsidenten entlud sich der perfekte Sturm: Sie werde alles in ihrer Macht Stehende tun, damit Rubiales sein Amt verliere, erklärte die spanische Ministerin Teresa Ribera. Sämtliche Spielerinnen des Nationalteams wollen streiken, bis die Führungsriege des Verbands weg ist.
Die im Finale unterlegenen Engländerinnen solidarisierten sich umgehend: „Missbrauch ist Missbrauch, und wir haben alle die Wahrheit gesehen“, heißt es in der schriftlichen Stellungnahme. Sogar das Büro von UNO-Generalsekretär António Guterrez ließ einen Tadel veröffentlichen.
Wenn man das alles liest und hört, könnte man denken, Rubiales sei kurz davorgestanden, Hermoso niederzuringen und wie ein Raubtier über sie herzufallen. In Wirklichkeit dauerte die inkriminierte Szene nur ein paar Sekunden lang, und die meiste Zeit geht für eine herzliche, offenbar einvernehmliche Umarmung drauf. Am Schluss drückt er ihr noch einen schnellen Kuss auf die Lippen. Das war alles.
Kann so ein Erlebnis wirklich dazu führen, sich „verletzlich und als Opfer einer impulsiven, sexistischen und unangebrachten Handlung“zu fühlen, wie Jennifer Hermoso behauptet? Oder blieb ihr nichts anderes übrig, als das zu sagen, weil man sich der einmal angelaufenen Empörungsmaschinerie nicht ungestraft in den Weg stellt?
Es ist wirklich ein Jammer, dass ausgerechnet die Frauenfußball-WM so enden musste. Bis dahin war es ein wunderbares Sportfest gewesen, mit vollen Stadien, teilweise hochklassigen Matches und selbstbewussten Spielerinnen, die ihren Platz in der einstigen Männerbastion erobert haben. Doch das Finale gehört jetzt einem Mann. Und die eben noch starken Frauen müssen plötzlich so tun, als wären sie Prinzessinnen auf der Erbse, die sich von jeder kleinen Irritation erschüttern lassen. Luis Rubiales ist wahrlich kein Sympathieträger. Es gab Korruptionsvorwürfe gegen ihn, sein Auftreten gilt als selbstherrlich. Wenigstens erwischt es nicht den Falschen, könnte man sagen. Die aktuelle Hysterie wirkt trotzdem aufgesetzt und ein bisschen billig.
Luis Rubiales ist kein Sympathieträger. Die aktuelle Hysterie wirkt trotzdem aufgesetzt.
Müssen wir jetzt die Videos sämtlicher Sportveranstaltungen der vergangenen Jahre durchsehen, um missliebige Funktionäre eventuell mit der #MeToo-Keule zu erledigen? Und wenn ein unschuldiges Küsschen schon als Missbrauch durchgeht: Was bleibt an Aufregung noch übrig für Fälle, in denen wirklich Gewalt im Spiel ist?
Die Mutter des Präsidenten befindet sich derzeit im Hungerstreik und will erst wieder etwas essen, wenn ihr Sohn vollumfänglich rehabilitiert wird. Auch eine Form von weiblicher Überreaktion. Wenn Luis Rubiales die Degradierung verdaut hat, kann er sich auf seine Wirkmacht sogar noch etwas einbilden.