Zarte Anzeichen der Wachablöse Jannik Sinner führt einen fehleranfälligen Novak Djoković im Halbfinale vor. Aber was bedeutet das?
Jannik Sinner ist in Melbourne Außergewöhnliches gelungen. Der Italiener, 22, bezwang im Halbfinale der Australian Open Titelverteidiger Novak Djoković in einer bemerkenswerten Deutlichkeit mit 6:1, 6:2, 6:7 (6), 6:3. Dabei sind Siege gegen Djoković nie eine Selbstverständlichkeit, schon gar nicht in Melbourne.
Nirgendwo sonst dieser in der Vergangenheit erfolgreicher, hier holte er zehn seiner 24 GrandSlam-Trophäen. Vor Sinner war es zuletzt dem Südkoreaner Hyeon Chung gelungen, Djoković beim ersten Saisonhöhepunkt eine Niederlage zuzufügen. Das war 2018, also vor sechs Jahren. Danach hat Djoković unglaubliche 33 Spiele in Serie gewonnen.
Gegen einen zunächst souverän agierenden Sinner zeigte Djoković an diesem Halbfinaltag in den Sätzen eins und zwei ungewohnte Schwächen. Bei elf Winnern beging Djoković 29 (!) unerzwungene Fehler. Sinners Bilanz (10:8) war eine weitaus positivere. Das Resultat : 6:1, 6:2 nach gerade einmal 73 Minuten. Stoisch nahm Djoković die Geschehnisse zur Kenntnis, kommunizierte kaum mit seiner Spielerbox. Auch das war ein ungewöhnliches Bild.
Erst im dritten Satz entwickelte sich ein offener Schlagabtausch, bei dem Sinner im Tiebreak einen Matchball vergab. Der Turnaround gelang Djoković dennoch nicht mehr. Nach 3:22 Stunden Spielzeit fixierte Sinner den Einzug in sein erstes Grand-Slam-Finale, in dem am Sonntag (9.30 Uhr MESZ, Servus TV, Eurosport) Daniil Medwedew (5:7, 3:6, 7:6, 7:6, 6:3 gegen Alexander Zverev) wartet.
„Gratulation an Jannik, er hat den Sieg verdient. Ich war schockiert von meinem Level. Es war eines der schlechtesten Grand-SlamMatches meiner Karriere“, erklärte ein enttäuschter Djoković.
Die These aufzustellen, dass Sinners Halbfinal-Coup gleichbedeutend mit der schon vor Jahren prognostizierte Wachablöse im Welttennis wäre, scheint dennoch verführt. Es sind zunächst einmal nicht mehr als zarte Anzeichen einer solchen. Zur Erinnerung: Djoković gewann im Vorjahr drei von vier Grand Slams, die einzige Niederlage auf Major-Ebene kassierte er in einem dramatischen Wimbledon-Finale gegen Carlos Alcaraz.
Zudem bezwang der Branchenprimus Sinner noch vor etwas mehr als zwei Monaten im Finale der ATP Finals in Turin. Und wenn am Montag die neue Weltrangliste erscheint, wird der 36-Jährige sie weiterhin anführen.
Um das Phänomen Djoković besser zu verstehen, reichen Zahlen längst nicht mehr aus. Die über eineinhalb Jahrzehnte dominierenden „Big Three“sind längst zerbröckelt. Roger Federer verabschiedete sich 2022 in die Tennis-Pension, und Rafael Nadal kämpft nach einem Jahr Auszeit und dem Versuch
Zweifellos anzuerkennen sind aber die Leistungen des Serben, der mit 36 Jahren die Weltrangliste anführt und bei der Jagd nach Rekorden noch kein Ablaufdatum kennt. Daran ändert auch die glatte Niederlage gegen Sinner nichts.
„Wenn ich das Gefühl habe, nicht mehr auf höchstem Niveau mithalten und um Grand Slams mitspielen zu können, dann werde ich wahrscheinlich über mein Karriereende nachdenken“, erklärte Djoković vor wenigen Tagen in Melbourne. Nach dem HalbfinalAus sagte er: „Ich mache mir immer noch große Hoffnungen bei den Grand Slams. Das muss nicht der Anfang vom Ende sein, nein. Das war erst der Anfang der Saison.“