Stampiglienbeschluss als rechtsstaatliches Feigenblatt
Ermittlungsmaßnahmen zu genehmigen ist weniger aufwendig als sie zu untersagen. Aber auch für die Bewilligung wäre eine genaue Begründung durch das Gericht essenziell.
Wien. In einer langersehnten und weitreichenden Entscheidung vom 14. Dezember 2023 (G 352/2021) hat der Verfassungsgerichtshof (VfGH) festgehalten, dass die Sicherstellung von mobilen Datenträgern in Strafverfahren ohne vorherige richterliche Bewilligung verfassungswidrig ist. Die entsprechenden Bestimmungen der Strafprozessordnung (StPO) treten mit 31. Dezember 2024 außer Kraft. Mit der in Zukunft notwendigen gerichtlichen Bewilligung in Form eines Beschlusses durch einen Haftund Rechtsschutzrichter im Ermittlungsverfahren rückt aber aus der Sicht der Praxis ein bereits altes Problem erneut in den Vordergrund: der sogenannte „Stampiglienbeschluss“.
Gemäß § 86 StPO hat ein Beschluss a) Spruch, b) Begründung und c) Rechtsmittelbelehrung zu enthalten. § 86 StPO sieht außerdem vor, dass in der Begründung „die tatsächlichen Feststellungen und die rechtlichen Überlegungen auszuführen [sind], die der Entscheidung zugrundegelegt werden“. Anders als es der Wortlaut dieser Bestimmung nahelegen würde, lässt der OGH aber bei der gerichtlichen Bewilligung einer staatsanwaltschaftlichen Anordnung durch den Beschluss eines Haft- und Rechtsschutzrichters den sogenannten Stampiglienbeschluss genügen.
In der Praxis sieht das in der Regel so aus: Die Staatsanwaltschaft ordnet eine Ermittlungsmaßnahme an, z. B. eine Hausdurchsuchung, und begründet diese. Noch am Ende der Anordnung selbst befindet sich der Beschluss mit der Bewilligungsstampiglie: „Die Anordnung wird aus den in der Anordnung angeführten Gründen bewilligt.“Alles, was der Haft- und Rechtsschutzrichter im Fall einer Bewilligung noch tun muss, ist neben der Angabe des Datums und Setzung einer Frist seine „Unterschrift“auf die Anordnung zu setzen, was in der Regel in Form einer elektronischen Signatur des jeweiligen Haft- und Rechtsschutzrichters geschieht. Durch diese Art der Beschlussfassung in Form eines Stampiglienbeschlusses macht sich der Haft- und Rechtsschutzrichter bei einem stattgebenden Beschluss die im Antrag enthaltene Begründung der Staatsanwaltschaft „zu eigen“und verweist in seinem Beschluss
auf diese; vorausgesetzt, er stimmt mit der Begründung der Staatsanwaltschaft überein.
Kritik der Wissenschaft
In der Literatur wird diese Vorgehensweise (zu Recht) kritisiert, weil sie – sei es auch aus arbeitsökonomischen Gründen nachvollziehbar – dem Haft- und Rechtsschutzrichter die mit einer stattgebenden schriftlichen Begründung verbundene Abwägungsarbeit abnimmt, während spiegelbildlich die Verweigerung einer von der Staatsanwaltschaft begehrten Ermittlungsmaßnahme eines schriftlich begründeten Beschlusses bedarf. Denn erachtet ein Haft- und Rechtsschutzrichter die Voraussetzungen für eine begehrte Ermittlungsmaßnahme als nicht gegeben, muss er dies sehr wohl begründen.
Die Genehmigung einer Ermittlungsmaßnahme ist im Ergebnis somit grundsätzlich mit weniger Arbeitsaufwand verbunden als die Verweigerung derselben.
Zusätzlich wird aber auch ins Treffen geführt, dass beim Stampiglienbeschluss der richterliche Abwägungsprozess hinsichtlich des begehrten Grundrechtseingriffs für die Betroffenen nicht nachvollziehbar ist, weil nicht ersichtlich ist, wie der Haft- und Rechtsschutzrichter die einzelnen Argumente der staatsanwaltlichen Begründung gewichtet hat. Faktisch führt das dazu, dass der Betroffene im Fall eines Stampiglienbeschlusses im Normalfall nur durch eine Beschwerde (§ 87 StPO) gegen die gerichtliche Bewilligung eine eigenständige richterliche Begründung durch das angerufene Oberlandesgericht erhält. Das schränkt die Verteidigungsmöglichkeiten ein.
Auch die Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage durch Justizministerin Alma Zadić vom 31. März 2023 (13539/AB zu 1375/J XXVII. GP) deutet auf eine gewisse Schieflage hin. So hat beispielsweise die WKStA seit ihrer Gründung 11.748 Hausdurchsuchungen angeordnet, wovon lediglich 148 abgelehnt wurden. Dies entspricht einer Bewilligungsquote von 98,7 Prozent. Diese Bewilligungen werden im überwiegenden Teil der Fälle per bloßen Stampiglienbeschluss bewilligt. Nach den Erfahrungen der Praxis bewegen sich die per Stampiglienbeschluss bewilligten übrigen Anordnungen gefühlt in vergleichbaren Höhen.
Auch wenn es sich bei dieser Praxis nur um eine Anscheinsproblematik handeln sollte, bedarf es hier einer Korrektur, zumal es um intensive Grundrechtseingriffe geht und die Beschlussbegründung gerade auch nach außen verdeutlichen soll, dass der Richter den Grundrechtseingriff sorgfältig, objektiv und unparteiisch erwogen hat.
Mehr Personal nötig
Aus Anlass der VfGHEntscheidung zur Handysicherstellung sollte der Gesetzgeber die Beschlusspraxis zu Stampiglienbeschlüssen überdenken. Ganz nach dem Motto „Justice must not only be done, it must also be seen to be done” (EGMR 17. Jänner 1970, 2689/65, Delcourt/Belgien). Statt des aus unserer Sicht rechtsstaatlich bedenklichen Stampiglienbeschlusses bedarf es daher neben dem Richtervorbehalt auch einer legistisch noch klarer zum Ausdruck kommenden eigenständigen Begründungspflicht des bewilligenden Gerichts. Dies müsste auch mit einer personellen Aufstockung der Planstellen bei Haft- und Rechtsschutzrichtern in den Landesgerichten einhergehen.
Bis zur Reparatur durch den Gesetzgeber bleibt jedenfalls mit Spannung abzuwarten, ob sich durch das VfGH-Erkenntnis die gerichtliche Spruchpraxis bei dünn begründeten Anordnungen im Hinblick auf datenschutz- und grundrechtliche Bedenken ändern wird.