Der rebellische Bauer Europas Bauern haben eine lange Tradition im kämpferischen Umgang mit Herren und Obrigkeiten. Über bäuerliche Selbstwertgefühle und Identitätskrisen.
Der sizilianische Schriftsteller Leonardo Sciascia veröffentlichte einmal ein Erntelied, das er in einer Lokalzeitung aus dem Jahr 1876 gefunden hatte. Bauern kommen hier zu Wort, die während der Erntearbeit einen Hassgesang anstimmen. Er richtet sich gegen jedermann, der kein Bauer ist und keine Sichel in der Hand hat. Neben dem Hass auf die anderen kommt hier auch Selbsthass zum Ausdruck, der aus der Hoffnungslosigkeit ihrer Situation stammt: Untrennbar sind sie an eine Gesellschaftsordnung gekettet, die sie knechtet und ausbeutet. Das war im Sizilien des 19. Jahrhunderts und daher wenig überraschend. Es galt aber lange Zeit für die Landbevölkerung Europas generell. „Das tiefverwurzelte Gefühl des Ausgeschlossenseins und die Erbitterung derer, welche die anderen ernähren, aber von diesen gleichsam als Untermenschen betrachtet werden, ist nicht ungewöhnlich“, schrieb der Historiker Eric Hobsbawm 1998.
Jean de la Bruyère, der in seinem Werk „Charaktere“einen unbestechlichen Blick auf die sozialen Verhältnisse im Frankreich des 17. Jahrhunderts warf, schrieb: „Es gibt eine Art scheue Tiere, von männlichem und weiblichem Geschlecht, die man da und dort auf den Feldern sieht, dunkel, fahl und ganz von Sonne verbrannt, über die Erde gebeugt, die sie mit zäher Beharrlichkeit durchwühlen und umgraben; sie scheinen etwas wie eine Sprache zu besitzen, und wenn sie sich aufrichten, zeigen sie ein Menschenantlitz, und es sind in der Tat Menschen. … Sie ersparen den anderen Menschen die Mühe zu pflügen, zu säen und zu ernten, damit sie leben können, und haben wohl verdient, dass ihnen nicht das Brot mangle, das sie gesät haben.“
Was unübersehbar war, war der Unterschied der Bauern zu den Städtern, auch wenn ihnen Sprache und Religion gemeinsam war. Das führte zu einer eigenen Identitätsentwicklung, einem Gefühl der Unterlegenheit, Armut, Ausbeutung, über alle Staatsgrenzen hinweg. Das war ja auch durchaus realistisch, sie waren Untergebene und fühlten sich auch als solche, ihr Analphabetismus machte sie gegenüber den „Gebildeten“unterlegen.
Untereinander kommunizierten die Dorfbewohner dieses Gefühl des Ausgebeutetwerdens, freilich fehlte es zwischen den Bauerndörfern meist an Wechselbeziehungen, oft lagen sie auch im Streit wegen Grundstücksgrenzen, sodass der aufrührerische Geist selten von einer Gegend zur nächsten übersprang. Nur wenige Bauern dürften gehofft haben, dass ihre Region oder ihr Dorf allein die dauerhafte Befreiung erreichen könnte.
Während der Ernte mussten sie zudem ihre Agitation einstellen. Es gibt etwa Spekulationen darüber, warum gerade im Irland des 19. Jahrhunderts Ausschreitungen häufiger waren als in anderen Ländern: Die Kartoffelwirtschaft in dem Land erforderte weniger regelmäßige Arbeiten auf dem Feld. Auch Bauern in Grenzregionen, wo alle Männer bewaffnet waren, waren rebellischer. Allgemein gilt, dass die Bauernschaft ruhig war, wenn die örtliche oder nationale Herrschaftsstruktur gediegen und stabil war. Bekannt ist der Bauernmythos vom fernen König oder Kaiser, der, „wenn er nur wüsste“, Recht und Ordnung herstellen würde.
Der europäische Feudalismus schuf einen ständigen und unausweichlichen Gegensatz der Interessen zwischen Herren und Bauern. Ernst Bruckmüller, Spezialist für das Agrarthema, schrieb: „Formen gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen der ländlichen Bevölkerung und ihren Herren (aber auch staatlichen Instanzen) sind vom Spätmittelalter bis ins 18., ja bis ins 19. Jahrhundert hinein eine weit verbreitete Form sozialer Konflikte.“Man ist versucht zu sagen: Sie waren alltäglich. In Oberösterreich gab es von 1356 bis 1849 mindestens 62 Konflikte.
Die bekannten großen Bauernkriege von 1525 sind dabei auffällige Ausreißer unter einer Fülle von Konfliktformen. Das Schema war meist dasselbe: Die oft spontan gefundenen neuen Führer (die „Rädelsführer“) kümmerten sich um eine Struktur, Boten wurden herumgeschickt, um die Bauern „aufzubieten“. Wer nicht mittat, wurde aus der Gemeinde ausgeschlossen. Im ersten Anlauf konnte die Bauernschar gewisse Erfolge erzielen. Unliebsame Beamte wurden verjagt, verhasste Herren ermordet, Schlösser angezündet. Bei größeren Aufständen konnte das bis zur Einnahme befestigter Städte gehen.
Die erste Gegenwehr war häufig schwach, Polizei existierte nicht, Militär war teuer und musste erst angeheuert werden. Bis es so weit war, wurde verhandelt. Wenn der Erfolg ausblieb, kam es doch zu einer „militärischen Lösung“. Das waren in der Regel höchst einseitige Gemetzel. Letztlich unterlagen die Bauern immer. Der militärischen Niederlage folgte das Strafgericht, der „kurze Prozess“. Doch alle zu töten wäre kontraproduktiv gewesen, die Felder mussten bewirtschaftet werden, also wählte man Rädelsführer aus.
Natürlich gab es einen steten strukturellen Gegensatz zwischen Bauern und Herren. Es gab auch niederschwellige Widerspenstigkeit, die Bauern versuchten immer, dem Druck auszuweichen. Kleinere Formen waren Tumult, Aufruhr, Verweigerungen und Gewalttätigkeiten. Sie lieferten mindere Qualität ab, stahlen Holz, schickten Schwachsinnige zur Robot. Aber offene Revolte war doch etwas anderes: Man riskierte, verstümmelt oder hingerichtet zu werden, das war schon eine andere Kategorie.
Insgesamt aber war der politische Einfluss der Bauern vor dem 18. Jahrhundert im Großteil der Welt unbedeutend. Die Herrscher brauchten sich keine Sorgen zu machen über das, was in den Dörfern geschah, mit Ausnahme von China, wo Bauernerhebungen eine große Rolle beim Untergang von Dynastien spielten. Durch den Prozess kapitalistischer Industrialisierung in West- und Zentraleuropa gehörten Bauernerhebungen seit dem 19. Jahrhundert der Vergangenheit an, die Zeit der Französischen Revolution stellte diesbezüglich einen Schlusspunkt dar. In den ökonomisch und soziopolitisch „rückständigen“Staaten wie Russland oder auch
Spanien kam es aber bis ins 20. Jahrhundert zu gewaltsamen Aufständen, in den ehemaligen Kolonien bzw. den imperialistisch dominierten Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas bis in die Gegenwart.
Als Österreichs Bauern durch die Revolution von 1848 die Aufhebung der Leibeigenschaft erreicht hatten, verloren sie das Interesse an einem Umsturz. Es scheint sich die These zu bewahrheiten: Bauern werden unter bestimmten Bedingungen nur revolutionär, um am Ende traditionell bleiben zu können. Der Historiker Peter Feldbauer dazu: „Bäuerliche Produzenten sind qua Beruf pragmatisch und realistisch. Sie sehen, was ist, lernen, Wahrscheinlichkeiten zu kalkulieren, und sie wissen auch um die Ungewissheit des Ausgangs von Absichten und Projekten. Gegenüber ideologischen Höhenflügen sind sie in der Regel wenig anfällig. Um sie zu überzeugen, muss man an ihr konkretes Interesse appellieren. Hier liegt die Wurzel für den Konservatismusverdacht.“Karl Marx schrieb im „Achtzehnten Brumaire“, dass Bauern aufgrund ihres eigentümlichen Klassenstatus „unfähig sind, ihre Klasseninteressen im eigenen Namen geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden. Ihr Vertreter muss zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor den anderen Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und Sonnenschein schickt.“
Mitte des 20. Jahrhunderts begann die schwere Identitätskrise der Bauern, die an ihrem Selbstwertgefühl nagte. Bis zum Umbruch in den 1950er- und 1960er-Jahren bildete das Dorf in seinem wirtschaftlichen und sozialen Gefüge eine Insel erstaunlicher Stabilität. Dann aber vollzog sich auf dem Land binnen Kürze eine stille Revolution, die die alten idyllisierenden Vorstellungen von der Dauerhaftigkeit und Stabilität bäuerlicher Existenz widerlegte. Der Kapitalismus trieb die Differenzierung der Agrarbevölkerung in eine reiche Oberschicht und arme bäuerliche Massen voran. Nicht mehr das Auf und Ab durch Missernten und Witterungsbedingungen bedrohte im 20. Jahrhundert die wirtschaftliche Lage der Landwirtschaft, sondern die modernen Gefahren von Inflation, Wirtschaftskrise, niedrigen Erzeugerpreisen. Kommen dann Kritik an den Umweltstandards, das Thema Tierwohl und eine budgetäre staatliche Sparmaßnahme hinzu, hat die heterogene kleine Gruppe der Bauern das Gefühl, mit dem Rücken an der Wand zu stehen und ums Überleben zu kämpfen.