„Der Tag der Rechenschaft kommt“
Der Tod Nawalnys überschattete das Treffen in München. US-Vizepräsidentin Kamala Harris bekannte sich zur globalen Führungsrolle der USA.
Auf einmal betrat Julia Nawalny die Bühne der Münchner Sicherheitskonferenz. Ihre Augen waren verquollen. Vor nicht einmal zwei Stunden war der Tod ihres inhaftierten Manns, des russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny, publik geworden. Da stand sie nun aufrecht und wandte sich mit klarer, kräftiger Stimme an das Publikum. „Ich war nicht sicher, ob ich hier zu Ihnen sprechen oder sofort zu meinen Kindern zurückkehren soll. Doch dann habe ich mich gefragt, was Alexej getan hätte. Und er wäre geblieben“, sagte die Witwe.
Der Tag werde kommen, an dem Putins Regime Rechenschaft werde ablegen müssen für das, was es ihrem Mann, ihrer Familie und dem ganzen Land angetan habe. „Ich fordere Sie auf, zusammenzustehen gegen das Böse“, sagte die Russin. Der gesamte Saal erhob sich von den Sitzen.
Julia Nawalny hätte am Samstag im Hotel Bayerischer Hof an einer Diskussion oppositioneller russischer Frauen teilnehmen sollen. Deshalb war sie in München. Die Nachricht vom Tod ihres Manns legte sich wie ein dunkler Schatten über die Sicherheitskonferenz. „Wir trauern um Alexej Nawalny. Er war ein außerordentlicher Mann“, sagte deren sichtlich betroffener Leiter Christoph Heusgen zur Begrüßung.
Auch US-Vizepräsidentin Kamala Harris nahm zu Beginn ihres Auftritts Bezug auf Nawalny, vorsichtig zunächst. „Wenn sich die Nachricht bestätigt, ist das ein weiteres Zeichen für Putins Brutalität“, sagte sie.
Harris soll Europäer beruhigen
Danach konzentrierte sich Harris auf das Leitthema ihrer Ansprache, die Vision ihrer Regierung für die Weltordnung. Dabei hütete sie sich, den Namen ihres innenpolitischen Gegners auszusprechen. Doch Donald Trump schwebte wie ein unsichtbarer Quälgeist durch den Bayerischen Hof, während die Vizepräsidentin ihre Rede hielt.
Sie geißelte den Isolationismus – und meinte damit den polternden US-Republikaner, der zurück ins Weiße Haus will. Die Nummer zwei hinter Joe Biden beschwor bei der Münchner Sicherheitskonferenz die Wichtigkeit internationaler Bündnisse. Damit präsentierte sie sich als leibhaftige Antithese zu Trump, der die europäischen Alliierten mit einer schnoddrigen Bemerkung bei einem Wahlkampfauftritt in helle Aufregung versetzt hatte. Der Ex-Präsident hatte erklärt, unter seiner Führung würden die USA keine Nato-Mitglieder verteidigen, die ihre Beiträge nicht ausreichend bezahlt hätten. Mit diesen Ländern könne Russlands Präsident Wladimir Putin machen, was „zum Teufel“er wolle. Seither fragt sich Europa bang, ob oder wie lang es bei einem russischen Angriff ohne amerikanischen Schutzschirm überlebensfähig wäre.
In München stellte Harris klar, dass es im Interesse der US-Bevölkerung sei, eine globale Führungsrolle zu übernehmen, für Demokratie zu kämpfen und Partnerschaften zu pflegen. Wer das infrage stelle, sei ein Narr, sagte sie und meinte abermals Trump. „Joe Biden und ich stehen eisern zur Nato“, erklärte sie.
Kamala Harris ist in Europa, um zu beruhigen. Und sie will wohl auch ihr Profil schärfen, das in den vergangenen drei Jahren unkonturiert und blass geblieben ist. Harris ist nur einen Herzschlag vom Präsidentenamt entfernt. Mit jedem Tag, an dem der 81-jährige Biden altert, fällt dieser Umstand mehr ins Gewicht. Die Amerikaner wählen auch Harris, wenn sie für Biden stimmen. Sie ist allerdings unpopulär.
Unter Biden sind die USA wieder in die Rolle des Weltpolizisten geschlüpft. Doch für Ordnung können auch sie nicht mehr sorgen. Die Kraft in ihrem langen Arm schwindet. In zwei großen Kriegen sind sie unterstützend oder vermittelnd involviert, in der Ukraine und in Gaza. Und bei beiden militärischen Auseinandersetzungen zeichnet sich kein Ende ab. Die Russen haben im Ukraine-Krieg wieder die Oberhand gewonnen, die Stadt Awdijiwka steht vor dem Fall. Und im US-Kongress blockieren die Republikaner immer noch die Militärhilfe für die Ukraine. „Ein Geschenk für Putin“, wie Kamala Harris meinte.
Im Nahen Osten bemüht sich US-Außenminister Antony Blinken seit Monaten, einen Flächenbrand zu verhindern, einen Ausweg aus dem Gaza-Krieg zu finden und die Dynamik in der Region ins Positive zu drehen. Den Flächenbrand konnten die Amerikaner bisher zumindest eindämmen, auch wenn die mit dem Iran verbündeten jemenitischen Houthi-Rebellen dem westlichen Militäreinsatz im Roten Meer trotzen und immer noch Handelsschiffe auf der für die Weltwirtschaft so wichtigen Route beschießen. Doch alle Versuche, einen Waffenstillstand in Gaza herzustellen und danach zu verfestigen, sind zuletzt gescheitert.
Die Münchner Sicherheitskonferenz steht heuer ganz im Bann der zwei großen Kriege, in deren Windschatten andere Konflikte längst unbemerkt toben oder jederzeit ausbrechen können. 50 Staats- und Regierungschefs haben sich angesagt, dazu noch 100 Minister. Aus Israel kommt Staatspräsident Yitzhak Herzog, aus Palästina Fatah-Ministerpräsident Mohammed Shtajjeh, wie überhaupt zahlreiche Spitzenpolitiker aus dem Nahen Osten angereist sind. Der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskij, wird am Samstag in München auftauchen, ebenso Außenminister Dmytro Kuleba. Vertreter des russischen Staats sind nicht eingeladen. Zu Wort wird sich allerdings der chinesische Außenminister, Wang Yi, melden.
„Historischer Schritt“in Berlin
Bereits am Freitagvormittag traf Selenskij in Berlin ein. Dort unterzeichnete er eine zehn Seiten lange Sicherheitsvereinbarung zwischen der Ukraine und Deutschland. Der deutsche Bundeskanzler, Olaf Scholz, sprach von einem „historischen Schritt“, der „kaum überschätzt werden kann“. „Erstmals in ihrer Geschichte tritt die Bundesrepublik in der Rolle als Garantiestaat in Erscheinung“, sagte der deutsche Verteidigungsminister, Boris Pistorius. Auf die Sicherheitskonferenz anspielend, wurde zudem ein „Münchner Paket“verkündet: Die Ukraine bekommt weitere Waffen im Wert von etwas mehr als einer Milliarde Euro, darunter 18 Stück der modernen Panzerhaubitze 2000, 100 Lenkflugkörper des Modells IRIS-T SLS und ein zweites Exemplar des Hightech-Luftverteidigungssystems Skynex. Geliefert werden sie in den Jahren 2025 bis 2027.
Am Abend reiste Selenskij nach Paris weiter, um dort eine weitere Sicherheitsvereinbarung mit Frankreich abzuschließen. Es ist nach Deutschland und Großbritannien die dritte. Die Zusagen dazu wurden bereits im vergangenen Sommer bei einem G7-Treffen im litauischen Vilnius gegeben – auch, um die Ukraine zu vertrösten, die sich stattdessen erste Schritte zu einer Nato-Mitgliedschaft gewünscht hätte. Sorgen bereitet den Europäern die politische Stimmung in den USA, ihrem größten militärischen Unterstützer. Dort wurde ein milliardenschweres Hilfspaket für die Ukraine vor Kurzem abgelehnt. Kanzler Scholz appellierte am Freitag in Berlin an den US-Kongress, schnell die „nötigen politischen Beschlüsse zu fassen“. Seinen Vortrag schloss der Deutsche ungewohnt pathetisch mit den Worten: „Slawa ukrajini!“– „Ruhm der Ukraine!“
In München vergewissert sich die militärische Weltelite, weiter Herr der Lage zu sein. Doch diese ist alles andere als einfach. Revisionistische und autokratische Mächte fordern das liberale Modell des Westens immer offener heraus. Und Kriege beschleunigen diesen Transformationsprozess und schwächen den Westen von innen. Bevölkerungen sind polarisiert. Männer wie Putin wollen den internationalen Regelbruch zur Norm machen, Grenzen mit Gewalt verschieben und dem Recht das Stärkeren zum Durchbruch verhelfen.
UN-Generalsekretär António Guterres warnte in München vor Chaos. Die Welt sei fragmentierter denn je. Der Kalte Krieg sei nicht so gefährlich gewesen wie die heutige Situation. „Manche Länder machen einfach, was sie wollen und halten sich an keine Regeln,“sagte der Portugiese und plädierte ebenso wie der deutsche Gastgeber für die Herrschaft des Rechtsstaats. Zumindest symbolisch wollte die 60. Sicherheitskonferenz einen hoffnungsvollen Weg vorzeigen: Jüdische und arabische Musiker des von Daniel Barenboim gegründeten Orchesters des West-östlichen Divans spielten zusammen zur Eröffnung ein Quartett von Fanny Mendelssohn Bartholdy.
Ich werde deutlich machen, dass Präsident Joe Biden und ich an der Seite der Ukraine stehen. Kamala Harris, US-Vizepräsidentin