Ö1-„Hörbilder“: „Ein Nazi-Enkel zu sein ist auch schambesetzt“
Sein Großvater war SS-Geheimdienstchef von Wien und Berlin, er wurde hingerichtet. Ö1-Redakteur Bernt Koschuh recherchierte 17 Jahre.
Zehn Jahre lang galt Friedrich Polte als „im Krieg verschollen“. Seine Kinder hofften inständig, ihr „Vati“würde zurückkehren. Sie wussten nicht, dass er längst tot war. Was genau geschehen war, blieb lange Zeit ein gut gehütetes Familiengeheimnis. Erst mehr als sieben Jahrzehnte später erfuhren Kinder und Enkelkinder, dass Polte, ein SS-Obersturmbannführer und Chef des SD („Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“) in Wien und Berlin, 1946 als Nazi-Kriegsverbrecher in Belgrad hingerichtet worden war. Er war der „Mitorganisation des Terrorapparats der deutschen Polizei mit dem Ziel, Juden auszurotten und die slawischen Völker zu versklaven“, für schuldig befunden worden.
Einer seiner Enkel ist Bernt Koschuh. Der Ö1-Redakteur hat 17 Jahre lang recherchiert, um so viel wie möglich über den Großvater herauszufinden. Sein Beitrag darüber läuft am Samstag (23. 3., 9.05 Uhr) auf Ö1 in der Reihe „Hörbilder“.
Koschuhs Spurensuche führte ihn nach Belgrad, Berlin und ins Staatsarchiv in Wien. Auch Familienmitglieder hat er befragt. Seine betagte Mutter, Almut, etwa, die von den Eltern liebevoll „Hasi“genannt wurde, und der der Vater ins Kinder-Tagebuch schrieb: „Hasi sagt viel Bitte und Danke. Das Verabschieden ist immer sehr nach Etikette – vom Baba, Handi-Geben, Heil Hitler!, das sie längst, und zwar von selbst, kann, bis zum Bussi wird alles durchprobiert.“
Für Polte war der Nationalsozialismus nicht nur eine politische Überzeugung. Es war seine Religion. „Meiner Gesamthaltung entsprechend bin ich aus der evangelischen Kirche ausgetreten“, schrieb er 1934 in seinen Lebenslauf für den SS-Personalbogen. „Ich habe mich der ,deutschen Glaubensbewegung‘ angeschlossen. Die wirkliche Glaubensbewegung ist der Nationalsozialismus.“
Was würde er den Großvater fragen?
Wenn er die Möglichkeit hätte, wäre das ein Punkt, nach dem er den Großvater fragen würde, sagt Koschuh im Gespräch mit der „Presse“. „Ich würde so gern vieles in Erfahrung bringen: Wie war das aus seiner Sicht? Wie hat er gedacht?“Den Nationalsozialismus als „Glaubensgemeinschaft“zu sehen, sei „schon extrem“. Es könne sein, dass er es „schleimerisch“gemeint habe, um Vorgesetzte zu beeindrucken. „Aber ich fürchte nicht.“Aus heutiger Sicht sei vieles, was sein Großvater dachte, „komplett absurd“.
Mit seinen Recherchen stößt Koschuh auf reges Interesse. „Ich habe bemerkt, dass es bei vielen Leuten einen Nerv trifft, weil es viele gibt, deren Großeltern Nazis waren, die bei der SS oder der SA oder illegale Parteimitglieder der NSDAP waren, und bei denen die Familie entweder weitgehend geschwiegen oder das schöngeredet hat.“Alle seine Großeltern hätten Polte als Helden dargestellt. „Der Vater war für die Kinder eine Schimäre. Abwesend, tot und doch immer wieder positiv thematisiert.“
Koschuh hat beschlossen, das Familiengeheimnis nach außen zu tragen. „Ich bin – zugespitzt gesagt – erleichtert, dass die Welt das aushält.“Dass niemand sagt: „Du bist ein Nazi-Enkel.“Dass man jetzt in der Familie und auch nach außen über die Sache reden könne, habe etwas Befreiendes. Aber es sei auch schwierig. „Ein Nazi-Enkel zu sein ist ja auch schambesetzt.“Schuld empfinde er hingegen keine. Andere Familienmitglieder schon. „Ich fühle mich wahnsinnig mitschuldig“, sagt eine Polt-Enkelin in Koschuhs Radiobeitrag. „Das ist ein großes Thema in meinem Leben, welch schreckliches Leid Menschen angetan wurde und dass er mitgemacht hat.“Durch seine Recherchen sei die Familie wieder mehr zusammengewachsen, sagt Koschuh: „Einige haben sich seit Langem wieder einmal getroffen und miteinander gesprochen.“
„Da blieb mir fast das Herz stehen“
Er selbst habe sich von den Recherchen noch mehr Klarheit erhofft. Einen Beleg, dass der Großvater einem Juden das Leben gerettet hätte, zum Beispiel. Gefunden hat er nichts. Aber auch keinen Tötungs- oder Deportationsbefehl mit Poltes Unterschrift. „Für mich ist die Entmenschlichung der Juden das Erschreckende“, sag Koschuh. In einem Report über die Novemberpogrome, den Polte unterzeichnete, steht: „Binnen drei Stunden waren sämtliche Synagogen Wiens, 42 Synagogen, in Brand gesetzt oder zerstört. (…) Seit Beginn der Aktionen in Wien sollen von den Juden etwa 680 Selbstmorde verübt worden sein.“Als er das gelesen habe, sagt Koschuh, „da blieb mir fast das Herz stehen“.