Wo bleibt es denn, das Ende der Welt?
Laut der Offenbarung des Johannes hätte sich bald nach der Auferstehung der Himmel auftun sollen: Krieg, Verderben, das Jüngste Gericht waren nahe. Aber nichts da. Heute feiern wir Ostern ohne jenes Schaudern, das die frühen Christen empfanden.
Kürzlich las ich in einer Abhandlung zur Glaubensökumene: „Auch Ostern ist ein Narrativ.“Zuerst dachte ich mir: Ja, was soll es denn sonst sein? Es ist die Erzählung von der Passion Christi, seiner Auferstehung von den Toten und verklärten Rückkehr zu Gottvater.
Doch dann dämmerte mir, dass hier – unter Verwendung eines kulturwissenschaftlichen Modeworts – Abstand genommen wurde vom Dogma, welches die Hüter der „wahren“christlichen Überlieferung seit jeher verfechten. Demzufolge ist Ostern nicht bloß ein Narrativ, was einschließt: eine Erzählung unter anderen; es ist vielmehr eine absolute Glaubenswahrheit. Aber eben der Umstand, dass es nur eine einzige solche Wahrheit geben kann, wird von den anderen monotheistischen Großreligionen geleugnet.
Jesus gilt – dem Koran entsprechend – als Prophet und Gesandter Gottes. In dieser Eigenschaft konnte er, gemäß der islamischen Vorstellungswelt, nicht am Kreuz sterben. Sure 4,157–158, sagt: „Aber sie haben ihn weder getötet noch gekreuzigt, sondern es erschien ihnen so. (…) Nein! Vielmehr hat Allah ihn zu Sich erhoben.“Für Muslime zielt die österliche Passionsstimmung ins Leere.
Und obwohl im Christentum von Jesus als dem „Lamm Gottes“die Rede ist, bleibt die Anspielung das jüdische Pessach-Fest – es handelt sich um das Blut eines Opferlammes zur Befreiung der Juden aus der Tyrannei Ägyptens – dem Ostergeschehen äußerlich. Jesu erste Anhänger waren Juden, sie bezeichneten ihn als Rabbi, das heißt : als Schriftgelehrten, ohne seine Gottessohnschaft zu erwägen. Demnach ist Jesus nicht die zweite göttliche Person im Rahmen der Lehre von der Dreieinigkeit („Trinität“). Dass Gott Jahwe in menschlicher Gestalt zur Vergebung der Sünden den Kreuzestod erleidet, ist der jüdischen Gefühlswelt fremd.
Die Gestalt des Jesus ist eingebettet in mehrere „Narrative“, von denen einzig das Christentum die Ostererzählung als Passionsgeschichte zur unbezweifelbaren Heilsbotschaft erhoben hat. Aber auch im engeren Bereich der christlichen Erzähltradition werden zunehmend Fragen aufgeworfen, die bislang bloß in den gelehrten Journalen diskutiert wurden. Ich erinnere mich an ein Gespräch, das der Theologe und Religionspublizist Adolf Holl – er verstarb 2020 – mit mir führte. Damals war im Insel-Verlag gerade ein Texte-Kompendium erschienen, übersetzt und kommentiert vom Neutestamentler Klaus Berger und der Übersetzungswissenschaftlerin Christiane Nord: „Das Neue Testament und frühchristliche Schriften“.
Man schrieb das Jahr 1999. Nun konnte der interessierte Laie endlich die noch erhaltenen Schriften des frühen Christentums, jene des Kanons und die Apokryphen, in ihrer Gesamtheit nachlesen, zeitlich geordnet, darunter die Papyrusfunde, die 1945 bei Nag Hammadi in Oberägypten aufgetaucht waren. Holl faszinierte besonders die sogenannte Koptische Petrus-Apokalypse, deren Entstehungszeitpunkt spekulativ bleibt ; der unbekannte Verfasser hat sie dem Apostel Petrus zugeschrieben, um seinen eigenen Worten Autorität zu verleihen. Im Zentrum steht kein leidender, sondern ein lachender Jesus – kein „Lamm Gottes“, das nur durch seinen Tod die Menschheit vom Bann der Erbsünde befreien kann.
Wir hingegen feiern Ostern im Andenken an die Passion Christi. Dabei befinden wir uns, mehr als zweitausend Jahre später, im Widerspruch zur ursprünglichen Lesart der Bibel. Ihr zufolge hätte Jesu Wiederkunft bald nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt stattfinden sollen. Das war die Überzeugung der frühen Christen. Die Theologie nennt das Ausbleiben des Messias „Parusieverzögerung“, nach dem altgriechischen Wort „parousía“, „Gegenwart, Anwesenheit“.
„. . . und er führt Krieg“
Gemäß dem Narrativ, wie es sich in der visionären Offenbarung des Johannes findet, hätte sich der Himmel auftun sollen: „Und siehe, da war ein weißes Pferd und der, der auf ihm saß, heißt ‚Der Treue und Wahrhaftige‘: gerecht richtet er und führt er Krieg.“(Offb. 19,11). So ist die letzte Etappe der Heilsgeschichte angebrochen. Wir aber feiern zu Ostern die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu, ohne noch das frühchristliche Fieber in uns zu spüren, welches die Freude und den Schrecken über das baldige Ende der Welt anzeigt. Genau genommen überspielt die Rede von der verzögerten Wiederkunft des Messias nach seiner Rückkehr zum himmlischen Vater den Umstand, dass das Christentum, gemäß dem Maßstab der Apostel, eigentlich widerlegt ist.
Dieser Umstand erfordert eine radikale Neuinterpretation der Heilsgeschichte, die sich im Osterfest manifestiert. Jedes Jahr werden die Passion und Auferstehung Christi „durchgespielt“, es ist davon die Rede, dass die Sünde der Welt hinweggenommen wird – aber was weiter? Ostern hat sein innerstes Wesen schon lange grundsätzlich geändert, das mag auch der Grund sein, warum hier die Säkularisierung besonders tief greift: Man freut sich, über allem liegt der Glanz des Frühlings, die Welt ist wieder neu erwacht. Nichts deutet mehr darauf hin, dass es sich um den Anfang vom Ende der Welt, wie wir sie kennen, handelt; nichts deutet auf die prophezeite Herabkunft des Neuen Jerusalem, worin die Glaubensfesten im ewigen Glanz Gottes glückselig verweilen werden.
Lange Zeit war eine differenzierende Lesart der Letzten Dinge vergessen. Sie stützt sich auf den 2. Thessalonicher-Brief, abgefasst etwa 50 n. Chr. Diese Lesart wurde vor allem durch den Staatsrechtler Carl Schmitt wieder ins Zentrum der abendländischen Eschatologie gerückt. Dort ist vom Katechon die Rede, einem „Aufhalter“, der – ungenannt bleibend – die Wiederkehr des Messias und damit auch das Ende alles Irdischen verhindere.
Ist das der personifizierte Teufel?
Schmitt brachte seine Überzeugung dahin gehend zum Ausdruck, dass es in der bisherigen Geschichte der Menschheit immer einen Katechon gegeben habe. Dieses „Narrativ“, welches im Wesentlichen auf kulturpessimistische Zirkel im katholischen Raum beschränkt blieb, taucht Ostern in ein irritierendes Licht. Katechon – ist das der personifizierte Teufel? Mag sein. Zugleich hält er aber die Schrecken der johanneischen Offenbarung mit ihren Plagen, Schlachten und der Vernichtung eines großen Teils der Menschheit auf.
Der Verfasser des 2. Briefes an die Gemeinde der Thessalonicher schrieb unter dem Pseudonym des Apostels Paulus. Durch diese Autoritätsanmaßung wollte er, so steht zu vermuten, die Gemeinde darin bestärken, dem Glauben an das nahe Ende der Welt treu zu bleiben. Aber heute sieht man an diesem Detail, wie sich durch eine scheinbar geringfügige Änderung des Narrativs eine kollektive Stimmungslage ändern kann. Obwohl für die Gläubigen im Christentum die Erlösungshoffnung zumindest hintergründig vital bleibt, ist der Hauptstrom im Westen schließ
lich durchdrungen von einer „frommen Stimmung“, einer Friedenshoffnung ohne Furcht und Zittern. Dafür steht der Segen des Papstes, sein „Urbi et Orbi“, „der Stadt und dem Weltkreis“, zugleich Nachlass der Sünden für alle Menschen guten Willens.
Der Ägyptologe, Kultur- und Religionswissenschaftler Jan Assmann (gest. im Februar 2024) wies immer wieder auf die Konsequenzen der Ablösung des Vielgötterglaubens durch den jüdischen Monotheismus hin. Dessen Anhänger ließen nur eine Wahrheit gelten, die sie absolut setzten; dem entsprach die Dogmatisierung einer Lesart der Bibel. Die zentralen religiösen Ereignisse – wozu das Osterfest gehört – sind demnach nicht bloß die Folge einer epochenüberdauernden Tradition, sondern darüber hinaus das Ergebnis der autoritativen Aussonderung alternativer Mythen. Assmanns Kritik, die vor den Ereignissen des Osterfestes nicht haltmachte, betraf eben jene Absolutsetzung. Denn damit verbinde sich zwingend die Vorstellung, dass – theologisch gesprochen – alle Abweichungen vom rechten Glauben des Teufels seien und folgerecht der Verfolgung, ja Auslöschung preisgegeben werden müssten. Noch in der Säkularisierung des absoluten Wahrheitsbegriffes zeige sich dieses intolerante Verhalten. Hierin wurzle der Kulturimperialismus mit seiner Abkanzelung und Austilgung von Meinungen, die demjenigen entgegenstehen, woran „wir“– die Unsrigen – festhalten.
Man mag derlei Lob der Relativierung für übertrieben halten, denkt man bloß an die moderne Wissenschaft, die ohne Suche nach der einen, objektiven und insofern absolut gültigen Wahrheit niemals hätte entstehen und florieren können. Was nun aber den religiösen Bereich angeht, so lässt sich nicht leugnen, dass der Monotheismus eine Quelle mörderischer Gewalttaten im Namen der einen göttlichen Wahrheit gewesen ist. Freilich hat der Vielgötterglaube die antiken Kulturen nicht daran gehindert, im Namen ihrer Götter alle nur denkbaren Schrecken über den damals bekannten Erdkreis zu bringen.
Wie dem auch sei, das Osterereignis ist Ergebnis eines monotheistischen Narrativs, welches – unter Androhung von Exkommunikation, Folter und Hinrichtung – von der kirchlichen Obrigkeit in der einzig für gültig erachteten Form festgelegt, „dogmatisiert“, wurde. Das Osterereignis, wie wir es kennen, wurzelt im biblischen Kanon, der durch die Evangelien des Neuen Testaments und die Apostelbriefe fixiert wird. Judas verrät den „Menschensohn“, der den Tempelpriestern und Schriftgelehrten ein Dorn im Auge war. Der Erlöser wird an die Römer ausgeliefert, zum Tode verurteilt und gekreuzigt. Jesus ist das „Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt“(Joh. 1,29).
Adolf Holls Buch „Der lachende Christus“aus dem Jahre 2005 setzt hingegen bei der Koptischen Petrus-Apokalypse an, die nicht in den Kanon aufgenommen wurde. Sie zeigt Jesus im Tempel, wie er die Jünger lehrt, unter ihnen Petrus, dem eine Vision vom Leiden des Gekreuzigten zuteilwird. Der Leser erfährt, dass der „lebendige Jesus“neben Petrus steht und sich über die Römer mokiert, die glauben, sie hätten den Richtigen gefasst. „Der, den du heiter und lachend neben dem Kreuz stehen siehst, das ist der lebendige Jesus. / Der, in dessen Hände und Füße sie die Nägel schlagen, ist dagegen nur sein schwaches, sterbliches Abbild.“Petrus wird offenbart, dass der Messias zuerst im Körper des ans Kreuz Geschlagenen gewohnt habe, dann aber „entkommen“sei. Dies ist der Kern der Vision, die Petrus geheim halten solle. Hätte sich das Bild durchgesetzt, wonach Jesus kein Leidensmann gewesen sei, sondern heiter, zum Spott fähig über die
Richter und Folterknechte, dann wäre die Ostererzählung ein „Narrativ“, das uns befremden müsste. Der Christus der Petrus-Apokalypse, dessen Wesen rein spirituell ist (das mag den Apologeten des Spirituellen zu denken geben), hat keine Sympathie mit seinem menschlichen „Double“– als ob Gott sich nach Golgatha, zum „Ort des Schädels“, schleppen ließe! Doch akkurat der Mangel an Mitleid befremdet. Jesu Auferstehung „von den Toten“ergreift unser Gemüt wesentlich tiefer. Es ist schwer zu sagen, wie sich das Christentum entwickelt hätte unter der Regentschaft eines Gottes, der in Gestalt seines „Sohnes“lehrt, dass die Bedrängnisse des Fleisches zwar real sind, aber unter dem Gesichtspunkt des körperlosen Geistes irreal.
Und Ostern? Gründonnerstag und Karfreitag wären Tage der Trauer über das Leiden und Sterben eines charismatischen Menschen, jenes Jesus von Nazareth, der als Lehrerprophet, indes ohne Anspruch auf Göttlichkeit, die Welt veränderte. Dies wäre eine andere Ostererzählung – sie wäre „humanistischer“. Wenn wir allerdings den Worten Wittgensteins folgen, wären wir dann „wieder verlassen und allein“– ohne Befriedung des Todes, ohne heilsgeschichtliche Tröstung. Dazu steht unsere österliche Empfindsamkeit weiterhin quer, basierend auf dem Narrativ der Bibel, die viele von uns kaum noch kennen.
‘‘ Was, wenn sich das Bild durchgesetzt hätte, wonach Jesus lacht und über die Richter und seine Folterknechte spottet?
Univ.-Prof. Dr. Peter Strasser, geboren 1950, unterrichtete an der Grazer Universität Rechtsphilosophie, Ethik und Religiöses Denken. 2014 Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik. Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter „Apokalypse und Advent – Warum wir da gewesen sein werden“und jüngst: „Ewigkeitsdrang“(beide Sonderzahl). (Foto: Christian Jungwirth)