„ Jeder will das Plus eins zu China werden“
Die Abkehr westlicher Firmen von China sei eine große Chance für Länder in Osteuropa, sagt Beata Javorcik, Chefökonomin der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD).
Die konjunkturelle Situation in Europa ist schwach, und vor allem Deutschland gilt wieder als der „kranke Mann“des Kontinents. Wie stark beeinflusst das die wirtschaftliche Entwicklung der Länder Osteuropas?
Beata Javorcik: Der Bedarf nach Exportgütern aus Osteuropa ist aufgrund der geringeren Nachfrage aus Deutschland natürlich geringer. Und auch die Direktinvestitionen aus Deutschland fallen niedriger aus. Aber es ist nicht nur das: Grundsätzlich sind die Länder Osteuropas ebenso wie Österreich oder Deutschland stark von den Folgen des Kriegs in der Ukraine betroffen. So sind die Energiekosten stark angestiegen und jetzt vier bis fünfmal so hoch wie in den USA. Auch die Inflation stieg in Osteuropa dadurch stark an und zog höhere Zinsen nach sich, die nun die Konjunktur zurückgehen ließen. Allerdings bringen diese Krisen der jüngsten Zeit den Ländern Osteuropas auch Vorteile.
Welche sind das?
Es gibt global einen Trend zur Diversifizierung der Lieferanten. Viele Unternehmen haben aufgrund des Kriegs gesehen, dass geopolitische Spannungen nicht mehr verschwinden werden. Laut einer Umfrage unter 4000 deutschen Industriefirmen haben rund 60 Prozent ihre Lieferanten schon stärker diversifiziert, und ein Drittel davon wird das in den nächsten zwölf Monaten tun. Das ist eine große Chance für Osteuropa.
Sehen Sie, dass diese Chance bereits genutzt wird?
Wir sehen in den Daten, dass viele Firmen jetzt eine China-plus-einsStrategie fahren. Die Unternehmen haben also einen Lieferanten in China, zusätzlich aber einen in einem anderen Land. Das kann Vietnam sein, das kann – etwa bei USFirmen – Mexiko sein. Es kann aber auch ein Land in Osteuropa oder Nordafrika sein – beispielsweise Marokko, weil das Land ein Freihandelsabkommen mit den USA und ein Assoziationsabkommen mit der EU hat. Jeder will jetzt dieses Plus eins zusätzlich zu China werden. Ein weiterer wichtiger Faktor ist dabei das Thema erneuerbare Energie. Hier hat sich die Stimmung in Osteuropa radikal gewandelt.
Inwiefern?
Vor dem Krieg war man in Osteuropa nicht sehr enthusiastisch hinsichtlich erneuerbarer Energie. Man sah den Ausbau dieser eher als Zwang aus Brüssel an. Jetzt wird er aber als Möglichkeit der Energiesicherheit angesehen. Und das Thema ist auch ökonomisch wichtig, weil der Preis für CO2 in Europa mittelfristig stark nach oben gehen wird. Erneuerbare werden also gebraucht werden, um wettbewerbsfähig in der Industrieproduktion zu bleiben. Denn Energie ist dabei einfach ein entscheidender Kostenfaktor.
In Österreich und anderen westlichen Ländern sieht man aber gerade die Erneuerbaren als zusätzlichen Kostenfaktor, weil sie teurer als fossile Energie sind.
Mittelfristig werden die Kosten für Energie vor allem dadurch bestimmt werden, welchen Preis CO2 hat. Die Verfügbarkeit von Erneuerbaren ist daher nicht ein Luxus, sondern eine Notwendigkeit. Die steigenden Emissionskosten würden sonst die Wettbewerbsfähigkeit von osteuropäischen Ländern erodieren lassen. Und es gibt noch einen anderen Grund: Die großen globalen Industriekonzerne stehen unter immer stärkerem Druck, auf ihre Emissionen zu achten. Dabei geht es auch um jene, die in der Lieferkette entstehen. Das betrifft nicht nur Güter, sondern auch Dienstleistungen. Wenn wir uns also beispielsweise IT-Dienstleistungsexporte aus Indien ansehen, dann sind die damit verbundenen Emissionen mehr als doppelt so hoch wie bei den gleichen Exporten aus Osteuropa. Das ist nicht überraschend. So muss ein IT-Experte aus Bangalore nach Wien fliegen, aus Krakau kann er mit dem Zug fahren. IT-Services aus Osteuropa für westeuropäische Unternehmen legen daher stark zu. Denn sie kommen auch aus der gleichen Zeitzone und haben die gleichen Voraussetzungen hinsichtlich der Datensicherheit.
Hat Osteuropa überhaupt noch genügend Menschen, um diese zusätzlichen Aufgaben zu übernehmen? Die Arbeitslosigkeit ist in vielen osteuropäischen Ländern de facto verschwunden.
Es geht in vielen Ländern ja nicht unbedingt darum, die Produktion zu steigern, sondern darum, die Struktur der Wirtschaft zu ändern. Sobald Länder reicher werden, versuchen sie, höher qualifizierte Produkte für den Export herzustellen – etwa Biotechnologie oder grüne
Energietechnik. Aber es stimmt : Viele Gesellschaften in Osteuropa sind am Überaltern und schrumpfen mitunter schneller als jene im Westen. Das wird auch den Druck auf die osteuropäischen Pensionssysteme erhöhen. Durch den Krieg in der Ukraine gab es nun zwar einen starken Anstieg der verfügbaren Arbeitskräfte durch geflüchtete Ukrainer. Viele von ihnen werden aber nur temporär bleiben.
Eine wichtige Quelle für Direktinvestitionen in Osteuropa war in den vergangenen Jahren China. Wie hat sich das durch die neuen Spannungen zwischen dem Westen und Peking verändert?
Es gibt noch Investment aus China in Osteuropa, aber einen wirklichen Anstieg gibt es nur in Marokko, Serbien und Ägypten. Vor allem Marokko ist für chinesische Batterie hersteller interessant, da sie von Subventionen unter dem amerikanischen Inflation Reduction Act profitieren können, wenn sie in die USA exportieren. Darüber hinaus gibte sande re interessante Investitionsv er schiebungen. So sehen wir in Zentral europa vermehrt ukrainische Direktinvestitionen im IT Sektor. Das sind Unternehmen, die den Flüchtlingen folgen. Und man sieht in Zentral asien höhere Direktinvestitionen aus Russland. Hier geht es vor allem um Logistik, weil viele Produkte aus dem Westen vermehrt über diese Länder transportiert werden.
Stichwort Russland: Wie hat die Abkopplung von dem Land die osteuropäischen EU-Länder getroffen?
Russland war kein großer Exportmarkt für die meisten dieser Länder. Daher waren die Auswirkungen nicht so groß, als ein Teil dieser Exporte verschwunden ist. Die stärksten Effekte waren ein Anstieg der Inflation durch höhere Energiepreise und der Zustrom von Flüchtlingen.
In Österreich ist die Energieabhängigkeit von Russland nach wie vor hoch. In vielen osteuropäischen Ländern ist sie geringer. Wie konnten diese Länder sich schneller abkoppeln?
Die Anpassung an die neue Situation war wirklich überraschend erfolgreich. Natürlich halfen hierbei die warmen Winter und der allgemeine konjunkturelle Rückgang. Man hat sich aber auch genau angesehen, in welchen Sektoren besonders viel Gas benötigt wird – beispielsweise in der Produktion von Ziegelsteinen. Und dann wurden diese wirtschaftlichen Bereiche gezielt reduziert und dafür andere Sektoren – etwa im Dienstleistungsbereich – forciert. Möglich machte dies die Anpassung der Kapazitätsauslastung.