Patriotisch entscheiden ist nicht unbedingt richtig
Gastbeitrag. Geschäftsführungen dürfen sich bei ihren Entscheidungen nicht von sachfremden Erwägungen leiten lassen.
Wien. Die Aufregung war groß, als bekannt wurde: Der Deutsche Fußball-Bund wechselt nach mehr als 70 Jahren von Adidas zu Nike. Der neue Ausrüstervertrag ist für den DFB offenbar deutlich lukrativer als der alte: Während Adidas in der Vergangenheit 50 Mio. Euro pro Jahr zahlte und diese Summe wohl auch reduzieren wollte, zahlt Nike künftig mehr als 100 Mio. Euro pro Jahr. Zahlreiche deutsche Spitzenpolitiker kritisierten die Entscheidung. Der deutsche Vizekanzler und Wirtschaftsminister, Robert Habeck, meinte, er hätte sich ein Stück mehr Standortpatriotismus gewünscht. Ähnliche Aussagen kamen auch von anderen Politikern und von deutschen Fans.
Aus rechtlicher Sicht stellt sich die Frage: Hätte der DFB überhaupt eine andere Wahl gehabt, als das Angebot von Nike anzunehmen? Hätte er den deutschen Konzern vorziehen und dadurch auf mehr als 50 Mio. Euro pro Jahr verzichten dürfen? Der Konter ließ nicht lang auf sich warten. Der Geschäftsführer des DFB, Andreas Rettig, qualifizierte die Kritik als populistisch und hielt fest, die Angebote seien nicht ansatzweise vergleichbar gewesen. Und der ehemalige Chef Oliver Bierhoff ergänzte: „Die Zeiten, aus Patriotismus bei einem Sponsoringpartner zu bleiben, sind vorbei. Das können wir uns schlichtweg nicht mehr leisten.“
Lang in USA diskutiert
Die unterschiedlichen Positionen führen zu einer spannenden Diskussion, die vor allem in den USA seit Langem geführt wird: Welche Rolle sollen Unternehmen in unserer Gesellschaft spielen – und wem sind Entscheidungsträger daher verpflichtet?
Historisch lag der Schwerpunkt dabei auf den Aktionären. Schon 1919 entschied der Michigan Supreme Court, Henry Ford dürfe nicht zulasten der Dividende die Verbraucherpreise senken oder die Löhne der Arbeitnehmer erhöhen. Der amerikanische Ökonom und spätere Nobelpreisträger Milton Friedman schrieb 1970 in einem Aufsatz für „The New York Times“, die soziale Verantwortung von Unternehmen bestehe darin, ihre Gewinne zu erhöhen. Ohne diese klare Vorgabe, so Friedmans Sorge, würden Manager Ressourcen des Unternehmens für ihre eigenen Agenden und zu ihrem eigenen Vorteil verwenden.
Der Ansatz wurde als „Shareholder Primacy“bekannt und bestimmte die Diskussion über Jahrzehnte. Das Konzept setzte sich in der wissenschaftlichen Diskussion und in den Führungsebenen von Unternehmen durch und wurde zum Leitfaden der Wall Street. Es führte jedoch auch zu einer kurzfristigen Optimierung der finanziellen Performance von Unternehmen, für die oft erhebliches Risiko in Kauf genommen und die langfristige Entwicklung gefährdet wurde. Die negativen Auswirkungen wurden durch die Finanzkrise 2008 besonders deutlich.
Stakeholder statt Shareholder
Seither hat ein Umdenken eingesetzt. Auf breiter Front wird von Ökonomen, Juristen, Managern, Investoren und Politikern ein ausgewogenerer Ansatz propagiert, der die langfristige Entwicklung in den Vordergrund stellt und die Auswirkungen auf Mitarbeiter, Kunden, die Gesellschaft und Umwelt berücksichtigt. Unternehmen sollten demnach den Interessen aller Stakeholder dienen, nicht nur denen der Aktionäre. Das als „Stakeholder Capitalism“bezeichnete Konzept ist fast 100 Jahre alt, war jedoch vorübergehend in den Hintergrund getreten und hat erst in den letzten Jahren wieder deutlich an Momentum gewonnen.
Das macht unternehmerische Entscheidungen nicht leichter. Der öffentliche Druck hat zugenommen, und von CEOs wird immer öfter gefordert, sich zu gesellschaftlich relevanten Themen zu positionieren. Der wahre Test ist dabei nicht die Presseaussendung, sondern das Handeln des Unternehmens. Den rechtlichen Rahmen für unternehmerische Entscheidungen gibt dabei die Business Judgment Rule vor. Sie wurde durch die amerikanische Rechtsprechung als Formel zur Beurteilung entwickelt, ob eine unternehmerische Entscheidung mit der erforderlichen Sorgfalt getroffen wurde. In Deutschland wurde die Business Judgment Rule 2005, in Österreich 2016 gesetzlich verankert.
Sachfremde Interessen meiden
Nach der österreichischen Regelung handelt ein Geschäftsleiter jedenfalls dann mit der erforderlichen Sorgfalt, wenn er sich bei einer unternehmerischen Entscheidung nicht von sachfremden Interessen leiten lässt und auf der Grundlage angemessener Information annehmen darf, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln. Die
Einhaltung dieses Maßstabs schützt zwar nicht vor öffentlicher Kritik, sehr wohl aber vor einer möglichen Haftung.
Für die Situation des DFB bedeutet das: Würde ein Geschäftsleiter aus reinem Patriotismus ein finanziell schlechteres Angebot vorziehen, wäre er dem Vorwurf ausgesetzt, er habe sich von sachfremden Interessen leiten lassen. Es muss aber auch nicht zwangsläufig das finanziell attraktivste Angebot angenommen werden. Kommt das lukrativste Angebot für Sponsoring von einem Tabakunternehmen, wird man das im Sportbereich aus guten Gründen ablehnen dürfen.
Gute Gründe hätte der DFB auch gebraucht, um von Angeboten der zwei größten Sportartikelhersteller der Welt das finanziell deutlich ungünstigere zu nehmen. Solche sind weder kurz- noch langfristig zu erkennen: Von der Partnerschaft werden neue Impulse erwartet, weil Nike schon bisher stark an der Entwicklung des Frauenfußballs interessiert war. Mit Blick auf eigene Mitarbeiter und die sportliche Entwicklung ist es besser, mehr Ressourcen zu haben. Auch die deutschen Fans werden langfristig mehr am sportlichen Erfolg als am Ausrüster interessiert sein. Mit Adidas hätte sich der DFB im Übrigen für einen Sponsor entschieden, für den die Partnerschaft selbst nicht mehr oberste Priorität hatte. An Real Madrid und Manchester United
überweist Adidas nämlich mehr als 100 Mio. Euro pro Jahr. Schließlich steht der DFB wirtschaftlich nicht gut da. Soweit das aus öffentlichen Informationen zu beurteilen ist, hat der DFB daher die aus rechtlicher Sicht einzig vertretbare Entscheidung getroffen.
Über kurz oder lang
In der Praxis sind unternehmerische Entscheidungen oft weniger eindeutig. Häufig stehen Geschäftsleiter vor einer Situation, in der sie kurzfristige finanzielle Interessen gegen langfristige Auswirkungen abwägen müssen. Der Extremfall sind Unternehmen, die kein langfristig haltbares Geschäftsmodell mehr haben, damit aber kurzfristig noch gut verdienen können. Die Business Judgment Rule zwingt Geschäftsleiter dabei nicht generell, dem einen (Shareholder Primacy) oder anderen (Stakeholder Capitalism) Ansatz zu folgen. Sie fordert von Geschäftsleitern, eine Entscheidungsgrundlage zu erarbeiten und auf dieser Basis eine Option zu wählen, bei der sie annehmen dürfen, zum Wohl der Gesellschaft zu handeln. Dabei sind die Interessen aller Stakeholder zu berücksichtigen, soweit sie für das Wohl der Gesellschaft relevant sind. Geschäftsleiter sind daher nicht generell verpflichtet, kurzfristig Quartalszahlen zu optimieren. Kurzfristig nachteilige Maßnahmen sind immer dann gerechtfertigt, wenn auf eine langfristig günstige Entwicklung vertraut werden darf.