Diversität? Das können unsere Filme jetzt auch
Österreichs Kino ist weiß, männlich dominiert und heterosexuell? Ja, aber längst nicht nur. Besser als die beim diesjährigen Festival präsentierte Statistik belegen das allerdings die in Graz gezeigten und ausgezeichneten Filme.
Was genau bedeutet „Migrationshintergrund“? Diese alte Frage, die die „Presse“schon 2010 zur Schlagzeile „Begriffsverwirrung“anregte, sorgte auch bei der heurigen Diagonale in Graz für Stirnrunzeln. Im Zuge des Branchentreffs beim Diagonale Film Meeting wurde im frühlingshellen „Heimatsaal“des Grazer Volkskundemuseums der dritte Film Gender Report präsentiert, beauftragt vom Österreichischen Filminstitut. Er nimmt das heimische Filmschaffen noch stärker als seine Vorgänger auch unter dem Gesichtspunkt der Diversität in den Blick. Und stellt fest: „Der Anteil an Hauptfiguren mit Migrationshintergrund in österreichischen Spielfilmen mit Kinostart 2020–2021 lag bei 13 Prozent. Der Anteil in der österreichischen Bevölkerung liegt hingegen bei etwa einem Viertel.“
Die Botschaft ist klar: Der Austrofilm hat (noch immer) ein Diversitätsproblem. Dass dem so ist, sieht jeder, der ins Kino geht und Augen im Kopf hat. Doch wenn man sich anschickt, den Eindruck zu quantifizieren, verzettelt man sich rasch: Ein Numerus-claususFlüchtling aus Deutschland fühlt sich hierzulande auf andere Weise „fremd“als ein Kriegsflüchtling aus Syrien. Migranten sind laut UN und Statistik Austria beide. Die „soziologische Definition“konnten die Analysten des Gender Reports nicht übernehmen, wie sie selbst schreiben. Aber welche dann?
Paul Scheibelhofer von der Universität Innsbruck, der die Studie gemeinsam mit Birgit Moldaschl vom Österreichischen Filminstitut (ÖFI) vorstellte, hatte auf einschlägige Publikumsfragen keine eindeutige Antwort: Der Erhebungsbogen sei schon älter, man sei sich bewusst, dass es am Begriff „Migrationshintergrund“eine „Latte an Kritik“gibt. Man habe versucht, durch Schulungen zu objektivieren, was „Fremdheit“ist und welche der untersuchten Filmfiguren ein „Migrationslabel“bekommen sollen. Fazit: „Es ist schwierig.“Man könne die Spielfilme „nicht befragen“, manchmal bleibe der Sachverhalt „ambivalent“. Man habe sich nach gewissen „Markern“gerichtet.
Unnötig, sich darüber das Maul zu zerreißen. Und doch zeugt die Schwammigkeit der Terminologie von der Schwierigkeit, Kino mit analytischen Tools zu vermessen. Die Unwägbarkeiten bei der Rezeption werden dabei zwangsläufig ausgeblendet. Aber der Film Gender Report – beim Durchblättern des dichten Dossiers bekommt man vor lauter Kreisdiagrammen viereckige Augen – hat ohnehin eine andere Funktion. Er soll im Dienste einer progressiven Kulturpolitik statistisch belegen, dass der Ö-Film nach wie vor zu weiß, männlich, bourgeois und heterosexuell ist, und zwar vor und hinter der Kamera.
Immerhin: „Österreichische Kinospielfilme zeigten 2020–2021 annähernd gleich häufig Frauen und Männer als Hauptfiguren.“Zudem ist der Anteil der Filmförderung, der an Frauen ging, gestiegen – er macht nun ein Drittel der Gesamtmenge aus. Doch Gleichstellung ist nur ein Aspekt von Diversität. Welches Bild von ebendieser zeichnete, ganz unwissenschaftlich betrachtet, die filmische Bestandsaufnahme der Diagonale 2024?
Beislmusiker und Installateurinnen
Grob gesagt: ein Positives, zumindest im Vergleich zu anno dazumal. Das Austrokino sei „variantenreicher“geworden, notierten Claudia Slanar und Dominik Kamalzadeh, die neuen Leiter des Filmfestivals, vorab im Interview mit der „Presse“. Ihr allererster Programmjahrgang scheint diese Einschätzung zu bestätigen. Ein Musterbeispiel aus dem kommerziellen Spielfilmbereich: „What a Feeling“von Kat Rohrer. „Divers“ist diese charmante Stadtkomödie (ab 19. 4. im Kino) mit Proschat Madani und dem deutschen Star Caroline Peters gleich in mehrfacher Hinsicht. Sie erzählt eine Liebesgeschichte zwischen zwei nicht mehr ganz jungen Frauen, spielt zum Teil in Wiens iranischer Community und bereichert als romantische Komödie die heimische Genrevielfalt.
Und die Schicht, das Milieu? Eher bürgerlich, obwohl Madanis Figur Installateurin ist. Man kann nicht alles haben, jedenfalls nicht innerhalb eines Films. Wer Proletarisches will, könnte mit Voodoo Jürgens in „Rickerl“vorliebnehmen: Der Titelheld, ein Wiener Beislmusikant, ist beileibe kein Akademikerkind. Oder halten Sie Städter für überrepräsentiert? Steigen Sie hinab in „Des Teufels Bad“! Das düstere Historiendrama porträtiert die Landbevölkerung Oberösterreichs.
Freilich: Protagonisten aus fremden Kulturkreisen findet man bei uns am häufigsten im Dokumentarfilm, immer noch. Etwa in „Anqa“von der in Wien lebenden kurdischen Regisseurin Helin Çelik. Er hat in Graz den Hauptpreis in seiner Sparte gewonnen: eine beklemmende Innenschau dreier Frauen aus Jordanien, die brutale Gewalt erlebt haben. Dabei lässt Çeliks eigenwillige, fragmentierte Ästhetik im Unklaren, in welchem Land sie sich aufhalten, welcher Nationalität sie sind. Zählt das dann auch als migrantisch?
Wenn „People of Color“erzählen
Festnageln lässt sich Diversität nicht. Zumal es nicht nur darum geht, wer in einem Film vorkommt, sondern auch, wie es die Person tut. Anna Gabersciks Doku „Edelweiss“, die in Österreich lebende „People of Color“zu Identität befragt, ist immer dann am stärksten, wenn konkrete Missstände angesprochen werden oder Tanzszenen den Gefühlen Ausdruck verleihen – weniger, wenn die Befragten in allgemeine Lamentos verfallen.
Und wie würde der Siegerfilm des Festivals im Diversitätsranking abschneiden? Martha Mechows „Die ängstliche Verkehrsteilnehmerin“hebelt alle Kategorien aus, handelt von der Flucht einer Frau (und des Films selbst) aus Zwängen der Realität. Auch das eine Möglichkeit, Vielfalt ins Kino zu bringen: raus aus den Schubladen, ab in die Wildnis der Kunst!