So können die Philharmoniker über sich hinauswachsen
Igor Levit musizierte unter Christian Thielemanns Leitung Brahms’ Erstes Klavierkonzert. Gemeinsam rückte man Maßstäbe zurecht.
Christian Thielemann hat die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien heuer wieder einen eigenen Zyklus gewidmet. Dergleichen war man hierzulande nur im Fall von Herbert von Karajan gewöhnt; dass Thielemann diese Ehre widerfährt, hat Methode: Seine Beziehung zu den Philharmonikern geht ins 25. Jahr, und man darf mit einem gewissen Recht sagen, dieser Künstler sei heutzutage deren wichtigster Dirigent. Bei ihm hat der Hörer das Gefühl, das Orchester mobilisiere sozusagen bereits beginnend mit dem Prozess des Einstimmens alle seine Qualitäten.
Es war Liebe auf den ersten Blick beim ersten Konzert anno 2000. Das war Ausführenden wie Publikum sogleich klar geworden. Ein gemeinsamer Ton war im Nu gefunden. Man hat ihn mittlerweile kultiviert. Man weiß, was man aneinander hat. Das ist ein Stadium, von dem Karajan einst mit Blick auf „seine“Berliner Philharmoniker gemeint hat, man könne mittlerweile Werke, die man oft und oft gemeinsam gespielt habe, schneller spielen, ohne an Präzision oder klanglicher Differenzierung einzubüßen.
So wurde auch Christian Thielemann unter unseren Augen und Ohren von einem notorisch langsamen Dirigenten zum Meister maßvoll bewegter Zeitmaße – nur dass unter seiner Stabführung das Klangbild weitaus transparenter, reichhaltiger wird als bei sämtlichen Mitbewerbern. Eine Aufführung wie jene der Zweiten Brahms’ am vergangenen Wochenende nimmt sich daher aus wie die feiertäglich geputzte, generalüberholte Luxusausgabe eines altbekannten, oft konsumierten Erfolgsprodukts. Man kennt es zwar in- und auswendig, man weiß auch, wie es in Wien unter Berücksichtigung der Spieltradition (in diesem Fall seit der Uraufführung!) im besten Fall klingen sollte. Doch wird diesfalls sozusagen die Lupe mitgeliefert, um alle Details zu betrachten. Nach einer Aufführung unter Thielemann weiß man nicht nur, dass, sondern auch warum Brahms, gespielt von den Philharmonikern, so schön klingt.
Mit Igor Levit haben Orchester und Dirigent auch noch einen wahrhaft kongenialen Partner gefunden, um genau in diesem Sinne auch die Klavierkonzerte des Komponisten aufzuführen. Die D-Dur-Symphonie war gekoppelt mit dem d-Moll-Konzert, was bezüglich des gemeinsamen Grundtons natürlich stimmig wirkt, wiewohl der Brahms-Kenner dieses erste der beiden Klavierkonzerte gemeinhin eher als einen Verwandten der Ersten Symphonie begreift: trotzig, widerborstig, hoch dramatisch und nicht nur emotional in dauerhaftem Fortissimo-Furor.
Der wahre Athlet bleibt stets locker
Da sich aber auch Igor Levit auf die eingangs erwähnten Differenzierungskünste versteht, wurde man diesmal eines Besseren belehrt. Ein Blick in die Noten genügt ja, um zu sehen, wie oft Brahms auch in dieses Gewitterwerk ruhige, ja stille, zurückgenommene Passagen integriert hat, wie oft er ein Pianissimo vorschreibt. Er tut es so häufig, dass bei Beachtung dieser Vorgaben – wie diesmal so beglückend – die lichten Inseln die Hauptsache darzustellen scheinen und die finsteren Wolken sich nur in dramaturgisch entscheidenden Augenblicken furchterregend zusammenballen.
Levit und Thielemann gelingt es, die Musik selbst dort, wo es recht kraftvoll und stürmisch zugeht, nicht als dicke Klangmasse erscheinen zu lassen; dergleichen geschieht ja, Hand aufs Herz, bei nahezu jeder Wiedergabe dieser Komposition. Diesmal verstand man hingegen, wie ein exzellenter Pianist sich seinen Reim auf scheinbar irrationale Angaben machen kann, etwa jene, die im vertracktesten Stimmengewirr noch ein „Leggiero“-Spiel verlangen, was etwa so zynisch scheint, wie wenn man einem Gewichtheber im Anflug auf den neuen Weltrekord zuruft: „Entspann dich, bleib ganz locker!“
Levit bleibt locker, holt aus seinem Part kaum je beleuchtete Mittelstimmen und versteht sich wie Thielemann darauf, Phrasen ausgiebig atmen zu lassen, ohne den Fluss der Musik zu bremsen: Bei den Philharmonikern hört man, wie wechselnde Harmonien neu ansetzen, sauber ausbalanciert werden, ohne zum Vorangegangenen einen Bruch spüren zu lassen. Eine Brahms-Aufführung wie diese klingt wie der Gegenpol zur einstigen Putzmittelwerbung, die uns suggerieren wollte, alles sei erledigt mit „einmal feucht Drüberwischen“. Konzert und Symphonie gelangen aus einem Guss in ihren riesenhaften Dimensionen, obwohl alle Details liebevoll und mit handwerklicher Uhrmacherkunst ausgefeilt waren. Mehr kann man in einem Konzertsaal wohl kaum erreichen.