Schweigeminuten fürs Schweigen: Wie man des 7.10. gedenken könnte
Die Reaktionen auf die iranischen Angriffe zeigen die verzerrte Wahrnehmung von Israel. Und werden lang in Erinnerung bleiben.
Sie wollten uns umbringen. Wir haben gewonnen. Lasst uns essen!“Die biblischen Geschichten hinter den meisten jüdischen Feiertagen lassen sich so zusammenfassen, meinte einst der US-Komiker Alan King. Es trifft auch auf Pessach zu, das kommenden Montag beginnt und an die Befreiung des jüdischen Volks aus der ägyptischen Sklaverei erinnert.
Nach dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober hieß es öfter, das Ereignis werde auch einmal ein solcher Anlass sein und als eine weitere Geschichte der Verfolgung und des Überlebens in die Erinnerung eingehen. Vielleicht hätte der Feiertag einen festen Ablauf ähnlich wie der Seder, das Essen am Vorabend von Pessach, bei dem gemeinsam erzählt und gesungen wird und Rituale die Geschehnisse von damals relevant halten.
Ändert sich der Umgang mit Israel nicht grundlegend, wird es ein sehr langer Abend werden.
Zu Beginn gäbe es vielleicht ein Lied, das den Titel „Aber“trüge. Während die eine Singstimme die Ereignisse des 7. Oktober nacherzählt und die Toten und Verletzten, Traumatisierten und Entführten beklagt, unterbricht eine zweite Stimme: Aber der Nahostkonflikt. Aber die Unterdrückung in Gaza. Aber Netanjahu. Aber Kolonialismus. Und so weiter. Diese Stimme wird immer lauter und schriller, bis die erste Stimme entnervt verstummt – und macht dann in gedämpftem Ton den restlichen Abend weiter. Der nächste Teil des Rituals würde sich mit Selbstverteidigung beschäftigen. Vielleicht gibt es, ähnlich wie zu Pessach eine Haggadah, also ein Büchlein, das während des Abends gemeinsam gelesen wird. Mithilfe dessen wird dann nacherzählt, dass Israel monatelang unter Raketenbeschuss gestanden ist, die Angriffe auf die Urheber in Gaza und im Libanon aber als Aggression kritisiert wurden.
Dann soll die Runde diskutieren. Wann gelten Kriegsziele als erreicht? Hätte es Alternativen gegeben? Allerdings müssen alle Teilnehmenden ihre Expertise aus dem Stegreif gewinnen. Wer mehr als fünf Artikel über Kriegsführung gelesen hat oder sich gar professionell mit dem Thema beschäftigt, darf bei der Diskussionsrunde nicht mitmachen.
Im Anschluss finden Schweigeminuten statt – in Erinnerung an all das, was nicht, oder viel zu spät, gesagt wurde. Das Schweigen der Frauenrechtsorganisationen nach Berichten von Vergewaltigungen. Das Schweigen der UNO zur Befreiung der Geiseln. Das Schweigen der Waffenstillstandsbefürworter nach dem Drohnen- und Raketenangriff der Islamischen Republik Iran. Vielleicht wird man sehr lang schweigen.
Abschließend könnte man der absurden Vergleiche gedenken. Die Politik Israels gleiche dem südafrikanischen Apartheidsregime. Der Terroranschlag gleiche einem Gefängnisausbruch. Der Krieg in Gaza gleiche der Liquidierung der NS-Ghettos. Der Angriff des autoritär regierten Iran auf israelisches Gebiet gleiche Selbstverteidigung. Auch hier ist offen, wie lang dieser Teil geht. Er könnte jedes Jahr länger werden.
Erschöpft würde man abschließend zum Essen bitten. Vielleicht befände sich ähnlich wie zu Pessach bedeutungsschweres Essen in der Mitte: genauso wie zu Pessach beispielsweise Salzwasser. Hier erinnert es an die Tränen der Trauernden und das Leid in der Region. Darin tunkt man heimische Kräuter, um nicht zu vergessen, dass die antisemitischen Äußerungen und Übergriffe, die dem 7. Oktober folgten, längst nicht nur Produkt des sogenannten importierten Antisemitismus waren, sondern aus der Mitte der Gesellschaft kamen. An Universitäten, in der Kunstwelt, ja, sogar beim Eurovision Song Contest.
Ändert sich der Umgang mit Antisemitismus nicht grundlegend, wird das Gedenken so aussehen, die verzerrte Wahrnehmung der Geschehnisse zum Schmerz beitragen. Aber noch ist es nicht zu spät: Die Geschichte von biblischen Feiertagen mag ein klares Ende haben. Aber die Realität hat es nicht.
Zur Autorin:
Anna Goldenberg ist Journalistin und Autorin („Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete“, 2018, Zsolnay) und lebt in Wien. Sie schreibt hier im 14-Tage-Rhythmus abwechselnd mit dem Journalisten Thomas Weber.
‘‘ Ändert sich der Umgang mit Antisemitismus nicht grundlegend, wird das Gedenken so aussehen.