„Das vergiftet die Gedächtniskultur total“
Die misstrauische Bewachung der Holocaust-Erinnerung schade ihr, sagt die Kulturwissenschaftlerin: Ein Gespräch über „Black Holocaust“, Gulag-Gedenken, Judith Butler und ein befremdliches großes Museum in Österreich.
Die Presse: Ihr Name ist untrennbar mit der Forschung über kulturelles Gedächtnis verknüpft, speziell in Bezug auf die NSZeit. Wenn Sie bei Ihrem Besuch in Österreich in Wien herumschlendern – was fällt Ihnen denn so alles auf? Aleida Assmann:
Also ich war ja bei der Eröffnungsfeier der Europäischen Kulturhauptstadt in Bad Ischl, und da habe ich mich gefragt: Was hängt denn hier über den Straßen? Es war der Doppeladler! Der Doppeladler in 20-facher Ausführung. Das fand ich sehr interessant, in Berlin wäre so was undenkbar. Das Haus Habsburg ist hier extrem beerbbar, die Hohenzollern, die Preußen sind es für die Deutschen nicht, auch wenn wir jetzt das neue alte Stadtschloss in Berlin haben. Das Gras kann nicht mehr wachsen, sozusagen. Und das Gras wächst hier sehr gut. Der Habsburg-Mythos ermöglicht ja auch eine lange Vergangenheit, wird jetzt auch in Bezug zur EU gebracht. Gleichzeitig gibt es kein großes Interesse am Haus der Geschichte, das zum ersten Mal die Gewaltgeschichte Österreichs in beiden diktatorischen Phasen dokumentiert.
Hatten Sie in Wien Ihren Ischl-Moment?
Bei einem Abstecher in das Heeresgeschichtliche Museum sah ich: Das ist ja gar kein Museum, das ist ein Geschichtstempel. Ein religiöses, sakrales Gebäude von A bis Z. Ein deutsches Pendant dazu ist der Turm der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin. Da hat Wilhelm II. für seinen Großvater Wilhelm I. so einen Geschichtstempel gebaut mit lauter christlichen Symbolen. Man weiß nie, wo das Christentum anfängt und das militärische Programm aufhört.
In den Debatten seit dem 7. Oktober wiederum weiß man oft nicht, wo Kritik an israelischer Politik endet, Antisemitismus beginnt. Sie initiierten 2021 die internationale „Jerusalemer Erklärung“, deren Antisemitismusdefinition das klarer machen sollte. Ist der Vorwurf eines weitverbreiteten „linken Antisemitismus“berechtigt?
Eine Anerkennung des Staats Israels und Kritik an der aktuellen Regierung ist dieser Definition zufolge nicht antisemitisch, die Aberkennung des Existenzrechts Israels sehr wohl. Und dass wir diese rote Linie im Moment permanent überschritten sehen, ist offensichtlich. Zugleich ist die Debatte in Deutschland durch Polarisierung zu einem Austausch von Bekenntnisformeln statt Argumenten eingeengt. Das verhindert das Sich-Hineindenken und Mitfühlen und führt zu einer Ausdünnung des Wissens darüber, worum es hier geht.
Was halten Sie von der Behauptung, Israel sei ein kolonialistisches Projekt?
Ich finde, das neue Buch des israelischen Historikers Moschee Zimmermann, „Niemals Frieden?“bringt da viel Klarheit hinein. Es ist eine sehr luzide Kritik und Rettung des Zionismus, macht deutlich, dass dieses Konzept viel weiter angelegt war, als den meisten heute bekannt ist, und sich erst im Zuge der Geschichte verschärft, verstärkt, vereinseitigt hat. Das muss man heute wieder freilegen, um genau diese Kritik in der Linken, die im Moment gang und gäbe ist, zu entkräften. Und um zu überwinden, was durch die gegenwärtige Regierung über 20 Jahre vernachlässigt worden, auch direkt und aktiv verunmöglicht worden ist.
Ideenräume können sich bei Intellektuellen stark von der Realität abkoppeln – sehen Sie diesen Fall bei Judith Butler, die den Kampf der Hamas als „bewaffneten Widerstand“bezeichnet hat?
Der 7. Oktober ist nicht ein weiterer Vorfall, er ist das Urtrauma selbst: Wenn dieses Projekt eines Staats als sicherer Hafen, eines eigenen Lebens- und Überlebensraums, scheitert, worauf kann man sich noch beziehen? Dass jemand in Kalifornien das nicht mitgekriegt hat, wundert mich schon. Ich glaube aber auch, dass die Vorstellung, Butler müsse als „Public Intellectual“und Meinungsführerin sofort etwas sagen, was sie dann auch weiter vertreten muss, eine große Überforderung ist. Judith Butler ist eigentlich eine tragische Figur.
Diese aktuellen politischen Debatten sind ja Teil einer größeren Auseinandersetzung um Vergangenheit und den Umgang mit unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Opfernarrativen, speziell kolonialgeschichtlichen. Was bedeuten in Ihren Augen diese Umwälzungen und das Sterben der letzten Zeitzeugen für die deutsche NS-Gedenkkultur mit ihrem Beharren auf der „Einzigartigkeit“des Holocaust?
Erinnerungskulturell und -politisch ist gerade enorm viel im Gang, und ich halte es für völlig falsch, wie hier jetzt Verbotsschilder aufgebaut werden. Das Verbotsschild lautet, wir haben doch die Holocaust-Erinnerung, wir können als Deutsche nicht auch noch die Kolonialgeschichte verarbeiten. Dieser Imperativ ist für mich überhaupt nicht nachvollziehbar. Dahinter steht die Idee, dass Erinnerung ökonomisch, wie ein Nullsummenspiel, funktioniert – investiert man hier, wird dort etwas abgebaut, kommt eine weitere Erinnerung dazu, nimmt das woanders etwas weg. Folglich müsse man das Neue verbieten, manchen gilt es sogar als antisemitisch. Als ob Erinnerung eine begrenzte Ressource wäre. Mit Geld ist es vielleicht so, aber nicht mit Emotionen – schon gar nicht, wenn diese Emotionen auch noch aufeinander bezogen sind.
Aufeinander bezogen – inwiefern?
Ein Beispiel: Die Rassenlehre und die sogenannte Eugenik, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin völlig etabliert waren, haben sich zunächst einmal im Kolonialismus etabliert. Da wurde als wissenschaftlich erwiesen betrachtet, dass es Menschen „minderer Rasse“gebe, die dazu bestimmt seien, in der Geschichte der „Herrenrasse“zu weichen und auszusterben. Diese Form der Kolonialherrschaft sei also im Einklang mit diesen wissenschaftlich geprüften Gesetzen. Und die Forscher, die in diesem System Entscheidungen trafen und Material sammelten, waren zum Teil dieselben, die dann in der NS-Zeit die Rassenhygiene gegen die Juden organisierten.
‘‘ Die Hierarchiefrage und die permanente Überwachungsperspektive werden auch der Holocaust-Erinnerung selbst schaden.
Beim NS-Gedenken gab es noch einen unmittelbaren Generationenzusammenhang. Den gibt es in Bezug auf die Kolonialgeschichte nicht.
Sie ist aber sehr wohl noch im Familienhorizont erreichbar, das kann ich an mir selbst feststellen. Meine Eltern sind Anfang des 20. Jahrhunderts geboren und im Deutschen Kaiserreich aufgewachsen. Sie haben noch den Sedantag als schulfreien Feiertag erlebt (Tag des Gedenkens an die französische Kapitulation 1870, Anm. d. Red.). Sie lebten in einer Gesellschaft, die stark auf dem Triumph über Frankreich aufbaute. Die Denkmäler dieser Erbfeindschaft stehen mit den Monumenten Bismarcks, Wilhelms I. und II. weiterhin in der Landschaft. Und die Kolonialgeschichte in Rivalität mit Frankreich, Belgien und England war in Deutschland zwar kürzer, aber genauso intensiv. Man hat sich da einfach so schnell und effektiv wie möglich ausgeweitet. Und die Städte haben alle ihre eigene Kolonialgeschichte. Man wartete da nicht auf den Staat, sondern schickte Abenteurer los, die dann irgendwo Handelsstützpunkte errichteten. Jede Stadt hat da ihre eigene Geschichte und ihre Denkmäler. Also wenn man jetzt mit den Neuen in unserer diversen Gesellschaft auf diese Geschichte blickt, sieht man überall die Spuren, die wir übersehen oder ausgeblendet haben.
Ein erinnerungspolitisch umstrittenes Feld sind mit der Kolonialgeschichte verbundene Holocaust-Vergleiche, Begriffe wie „Black Holocaust“oder Parallelen zur Apartheid. Verfechter der „Singularitätsthese“von der Einzigartigkeit des Holocaust sehen darin Relativierung …
In den 1970er- oder 80er-Jahren ist ein Schwarzer nach Yad Vashem gekommen und war tief, tief betroffen, einerseits von dem, was den Juden angetan worden war, andererseits davon, dass es eine Opfergruppe gab, die es geschafft hatte, ihre Geschichte in einem Museum zu erzählen. Zurück in den USA, hat er in Milwaukee das Black Holocaust Museum gegründet. Das Letzte, was er machen wollte, war zu sagen, der Holocaust ist weniger wert, hier ist der eigentliche Holocaust passiert. Man muss schon sehr bösartig draufschauen, um daraus einen Konkurrenzfall zu machen. Die Hierarchiefrage hat die ganze Gedächtniskultur total vergiftet. Wenn eine Verbindung hergestellt wird, dann geht es um Vernetzung und neuen Kontext, nicht um Hierarchie.
In Ihrem Buch empfehlen Sie zur Lösung dieser Hierarchiefrage in der Gedenkkultur eine Formel des deutschen Historikers Bernd Faulenbach, die dieser in Bezug auf das Verhältnis von Holocaust und stalinistischen Verbrechen prägte: Man solle den Holocaust nicht „relativieren“, Stalins Verbrechen nicht „trivialisieren“. Da ist die Hierarchie aber sehr klar …
Sie ist ja sowieso bei uns implantiert, darum brauchen wir nicht dauernd zu fürchten, wir brauchen uns nur die Anzahl der Gedenktermine, der Aktivitäten, der Denkmäler, der Akteure, der institutionellen Vorgaben ansehen. Das andere ist das Neue, das gerade erst startet. Das jetzt schon im Keim zu ersticken, indem man alles mit Misstrauen verfolgt und ständig sagt, da geht was anderes unter, ist eine ganz schlechte Grundhaltung. Die Hierarchiefrage kann man irgendwann später stellen, da wird sie sich aber auch erübrigt haben. Diese permanente Überwachungsperspektive wird auch der Holocaust-Erinnerung schaden.
In der EU fühlen sich osteuropäische Länder gedächtnispolitisch bis heute nicht genügend repräsentiert. Als der 23. August als Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus eingeführt wurde, war er sehr umstritten und wird bis heute im Westen kaum begangen. Zu Recht?
Ich habe immer stark für diesen Tag plädiert, es gibt kein historisches Argument dagegen, nur politische. Und die sind gefährlich, wenn sie jetzt nicht zünden, tun sie es in der Zukunft. Da gibt es eine Arroganz in der EU. Der israelische Historiker Yehuda Bauer von Yad Vashem spielte hier eine große Rolle, er hat einen Artikel gegen diesen Tag geschrieben mit dem Argument, er relativiere den Holocaust, und die deutschen Historiker, die ich gefragt habe, wie sie zu dem Tag stehen, haben alle auf diesen Artikel verwiesen. Diese Hierarchiebildungen haben das Gefühl gefördert, dass vom Westen der EU eine Repression ausgehe, dass man sich von diesem westlichen Konsens lösen muss. Und das wäre nicht nötig gewesen.