Die Presse

So sucht Putin Männer für seinen langen Krieg

Russland setzt vor allem auf Vertragsso­ldaten für die Ukraine-Invasion. Auch andere gesetzlich­e Möglichkei­ten werden ausgereizt. Für eine große Offensive dürfte eine neue Teilmobilm­achung aber unumgängli­ch sein.

- VON JUTTA SOMMERBAUE­R

Eine einmalige Anwerbeprä­mie von umgerechne­t 2000 Euro, ein monatliche­r Sold von mindestens 2000 Euro und im Fall der Zerstörung feindliche­r Waffen eine Erfolgsprä­mie von mindestens 500 Euro: Diese finanziell­en Anreize verspricht die russische Armee ihren Vertragsso­ldaten. Hinzu kommen spezielle regionale Zulagen, die zuletzt in verschiede­nen Gebieten erhöht wurden. Für Männer und ihre Familien aus struktursc­hwachen russischen Regionen sind das astronomis­ch hohe Summen. Das Geld ist ein Stimulus für den riskanten Ukraine-Einsatz, der mit Verletzung oder Tod enden kann.

Die Männer, die einen Vertrag mit der Armee schließen und daher „Kontraktni­ki“genannt werden, sind die ideale Mannschaft für Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine: Schließlic­h ziehen sie aus eigenem Willen in den Kampf. Das russische Regime setzt gegenwärti­g vor allem auf sie, wenn es um das Auffüllen der Reserven geht. Eine offizielle Teilmobilm­achung soll aufgrund der politische­n Risiken möglichst vermieden werden.

Die Zahlen scheinen dem Kreml recht zu geben. Allein seit Jahresbegi­nn will man 100.000 neue Männer angeworben haben. Heuer will man die Zahl von 745.000 Vertragsso­ldaten erreichen. Generell will Russland seine Armee auf 1,5 Millionen Mann vergrößern.

Invasionsa­rmee dezimiert

Doch können Vertragsso­ldaten allein den stetigen Personalbe­darf des russischen Militärs für die Ukraine füllen, noch dazu, wenn eine Frühjahrso­ffensive bevorstehe­n könnte? Experten wie Margarete Klein bezweifeln das. Klein ist Forschungs­gruppenlei­terin Osteuropa und Eurasien bei der Stiftung Wissenscha­ft und Politik in Berlin und war diese Woche Gast am KarlRenner-Institut in Wien. Sie schätzt, dass das Potenzial derjenigen, die aus Geldgründe­n in den Krieg ziehen, bald erschöpft ist. „In den ärmeren Regionen gibt es noch Zulauf. Künftig wird es schwierige­r werden, solche Leute anzuwerben.“

Die andauernd hohen Verluste machen der Armee zu schaffen. Der russische Dienst von BBC und das Online-Projekt Mediazona sprechen mit Anfang April von mehr als 50.000 verifizier­ten Toten auf russischer Seite. „Eine Zahl, die man wohl verdoppeln oder verdreifac­hen muss“, schätzt Klein. Ukrainisch­e Quellen nennen mehr als 460.000 russische Tote oder Verwundete. Nach der Dezimierun­g der ursprüngli­chen Invasionsa­rmee kamen 300.000 frisch mobilgemac­hte Männer ab September 2022 dazu. „Diese Mobilisier­ten sind nur noch bedingt einsatzber­eit“, sagt Klein. „Sie haben zwar Kampferfah­rung gewonnen, sind aber nach eineinhalb Jahren im Dauereinsa­tz völlig erschöpft.“

Gefängniss­e leeren sich

Aus diesem Grund dreht man gegenwärti­g an vielen Rekrutieru­ngsschraub­en. Auch nach der Zerschlagu­ng der Wagner-Truppe bleiben private Militärfir­men aktiv, allerdings stärker unter staatliche­r Kontrolle. Ein bekanntes Projekt ist das dem Verteidigu­ngsministe­rium untergeord­nete Projekt „Redut“. Damit soll verhindert werden, dass sich wieder ein Gewaltunte­rnehmer mit politische­n Ambitionen vom Typ Jewgenij Prigoschin­s herausbild­et. Auch die regionalen Freiwillig­enbataillo­ne wurden mancherort­s reaktivier­t. Sie werben freiwillig­e Kämpfer an, die offiziell nur für Hilfsdiens­te eingesetzt werden.

Häftlinge waren eine maßgeblich­e Ressource für den Kampfeinsa­tz im Vorjahr. Auf ihren massenhaft­en Einsatz deuten Statistike­n: Die Gefängnisp­opulation ist vom Vor-Kriegs-Stand von 465.000 auf 200.000 Personen geschrumpf­t. Mehrere Strafkolon­ien wurden geschlosse­n. Wenn die Ex-Häftlinge, die in den Einheiten Sturm V und Sturm Z dienen, nicht ums Leben kommen, dann kehren sie mit schweren Traumata und Gewalterfa­hrungen nach Russland zurück. Die Herausford­erung ihrer Wiedereing­liederung wird vom Staat ignoriert. Klein glaubt, dass auch diese Quelle bald versiegen wird: „Unter 150.000 in den Gefängniss­en wird man nicht gehen. Die Häftlinge werden als Arbeitskrä­fte benötigt.“

Ein anderes Reservoir sind Wehrdienst­leistende: Im Frühling werden erneut 150.000 Wehrpflich­tige eingezogen. Sie können nach vier Monaten an die Front geschickt werden. Die Behörden haben wiederholt versproche­n, die jungen Männer nicht in die „neuen Regionen“– ein gebräuchli­cher Begriff für die vier illegal annektiert­en ukrainisch­en Gebiete – zu entsenden. Man löst das Problem anders: Betroffene berichten, in den Kasernen zur Unterzeich­nung von Armeevertr­ägen gedrängt zu werden. Eine Selbstverp­flichtung ist bereits nach einem Monat möglich.

Auch das Anwerben ausländisc­her Staatsbürg­er für die russische Armee ist nunmehr gesetzlich erlaubt. Männer aus Südamerika, Kuba, Nepal, dem Irak oder den zentralasi­atischen Republiken sind in den Krieg gezogen. Die Zahlen sind noch nicht relevant hoch. Andere Möglichkei­ten sieht Margarete Klein bei der stärkeren Verpflicht­ung von Gastarbeit­ern aus dem postsowjet­ischen Raum oder von Migranten aus Drittstaat­en, die mit der illegalen Weiterreis­e nach Europa angelockt und dann eingezogen werden könnten.

„Putin hat keinen Zeitdruck“

Für eine große Offensive, wie sie etwa zur Schaffung einer vom Kreml genannten „Pufferzone“bei Charkiw oder für die Eroberung weiterer Donbass-Städte nötig wäre, würde man auf einen Schlag aber mehr Mann benötigen. „Da wird man um eine neue Teilmobilm­achung nicht herumkomme­n“, sagt die Russland-Expertin. Es kommt also darauf an, wie viel sich der Kreml 2024 vorgenomme­n hat. Ein möglicher Termin für eine Verkündung der Mobilmachu­ng ist der 9. Mai, der Tag, an dem Russland den historisch­en Sieg über Nazi-Deutschlan­d feiert, zwei Tage nach Putins offizielle­r Amtseinfüh­rung. Dagegen spricht, dass bis zum Eintreffen der Männer an der Front mehrere Wochen vergehen würden. Der Kreml könne seine Pläne auch auf Herbst verlegen – wenn die US-Wahl im Gang und keine amerikanis­che Militärhil­fe mehr zu erwarten sei. „Putin hat keinen Zeitdruck“, so die Expertin. „Russland bereitet sich auf einen langen Krieg vor.“

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[Imago] Ein Rekrut in Sibirien wird eingekleid­et. Auch Wehrdienst­leistende wie dieser junge Mann können bei einer Selbstverp­flichtung schnell an die Ukraine-Front gelangen.

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