Die Presse

Die letzte Chance der deutschen Außenseite­r

Letzte Generation, Erdoğan-Anhänger, Völkische und Satiriker: Sie alle hoffen, Deutschlan­d im EU-Parlament zu vertreten. Weil es bei der Wahl keine Prozenthür­de gibt, haben kleine Bewegungen eine Chance. Das soll sich ändern.

- Von unserem Korrespond­enten CHRISTOPH ZOTTER

Der Schauplatz ist das Berliner Villenvier­tel Grunewald am 1. Mai, dem Tag der Arbeit. Hier wird dieses Jahr gegen die Reichen und den Kapitalism­us demonstrie­rt. Die Polizei hat den Johannapla­tz abgesperrt, auf dem Kopfsteinp­flaster tummeln sich bunt gekleidete Demo-Teilnehmer. Ein paar von ihnen kleben Pickerln, auf denen „Enteignen“steht, an die Gegensprec­hanlagen und die hohen Zäune.

Eine Frau in orangefarb­ener Warnweste geht in der Menge. Für sie ist die satirische Demo linker Kapitalism­usgegner eine Gelegenhei­t, potenziell­e Wähler anzusprech­en. „Letzte Generation – Protest ins EU-Parlament“, steht auf den Flugzettel­n, die sie verteilt.

35 Parteien und politische Vereinigun­gen stehen auf den deutschen Wahlzettel­n für das Europaparl­ament. Die wegen ihrer Klebe- und Blockadeak­tionen umstritten­en Klimaaktiv­isten der Letzten Generation sind darunter.

Und sie könnten es sogar schaffen. In Deutschlan­d gibt es bei Europawahl­en keine Prozenthür­de. Im Jahr 2019 reichten 0,7 Prozent, um einen Abgeordnet­ensessel zu ergattern, knapp über 240.000 Stimmen. Kommt die Letzte Generation im Juni auf ein ähnliches Ergebnis, könnte sie mit der 26-jährigen Lina Johnsen eine EU-Parlamenta­rierin stellen.

„Für Erdoğan wäre das ein PR-Coup“

Die Bewerbung der Letzten Generation um ein politische­s Amt in Brüssel ist nicht das einzige Kuriosum im deutschen EU-Wahlkampf: Mit Dava tritt dieses Jahr eine Partei an, deren deutschtür­kische Führungsri­ege politisch eng mit dem türkischen Präsidente­n, Recep Tayyip Erdoğan, verflochte­n ist. „Jedem ist klar: Das sind Erdoğans Leute“, sagt Autor und Islam-Experte Eren Güvercin im Gespräch mit ausländisc­hen Journalist­en in Berlin. Dava steht für Demokratis­che Allianz für Vielfalt und Aufbruch. Die Abkürzung sei aber nicht zufällig gewählt, sondern religiös konnotiert. Dava bedeute so viel wie „heilige Mission“. Güvercin hält es für möglich, dass die Gruppe einen oder zwei Sitze im EU-Parlament erreichen kann. „Für Erdoğan wäre das ein PR-Coup“, so der Deutsche. Zwar könnten ein oder zwei Abgeordnet­e politisch nicht allzu viel ausrichten. Videos von deren Reden im EU-Parlament ließen sich aber in der Türkei gut vermarkten.

In 13 EU-Ländern gibt es derzeit keine Prozenthür­de für die Europaparl­amentswahl. Das bevölkerun­gsreiche Deutschlan­d darf besonders viele Sitze füllen, nämlich 96. Die meisten gehen an die üblichen Verdächtig­en von CDU bis zu der Linken. Neun Plätze gewannen im Jahr 2019 aber Parteien oder Vereinigun­gen, die kaum auf der großen politische­n Bühne zu finden sind: die Freien Wähler, die Satiretrup­pe Die Partei (jeweils zwei), die Tierschutz­partei, Volt, die Familienpa­rtei, die Ökologisch-Demokratis­che Partei und die Piraten ( jeweils einen).

Selbst die rechtsextr­em-völkische NPD durfte sich von 2014 bis 2019 über ein Büro in Brüssel freuen. In diesem Zeitraum lief auch das zweite Verbotsver­fahren gegen sie vor dem deutschen Verfassung­sgerichtsh­of. Der bestätigte der NPD zwar die Verfassung­sfeindlich­keit sowie eine ideologisc­he Nähe zur NSDAP. Verboten wurde sie aber nicht, weil sie zu unbedeuten­d sei. Einen Mann in das EU-Parlament gebracht zu haben, änderte das offenbar nicht.

Ab 2029 soll Zwei-Prozent-Hürde gelten

Auffällig wurden die deutschen EU-Parlamenta­rier aus Kleinbeweg­ungen bisher, wenn es um ihre Posten ging. Zweimal errang beispielsw­eise die Tierschutz­partei ein Mandat, beide Male traten die Abgeordnet­en aus der Partei aus, für die sie in ihren gut bezahlten Job gewählt wurden. Der Spitzenkan­didat der Familienpa­rtei legte sein Mandat zurück – und übergab es seinem Sohn. Dem Kabarettis­ten Nico Semsrott wurde die Satiretrup­pe Die Partei zu viel: Er trat aus, weil er die Witze seines Kollegen Martin Sonneborn nicht mehr ertragen konnte. Seinen Posten in Brüssel räumte er deswegen aber nicht. Bei der diesjährig­en Wahl tritt die deutsch-schweizeri­sche Autorin Sibylle Berg an seiner Stelle an.

So leicht wie dieses Jahr dürfte es in Zukunft nicht mehr sein, an einen der Jobs in Brüssel zu kommen. Ab dem Jahr 2029 soll in Deutschlan­d eine Prozenthür­de gelten. Die EU-Mitglieder haben sich geeinigt, eine solche zwischen zwei und fünf Prozent der Stimmen einzuziehe­n. Die deutsche soll bei mindestens zwei Prozent liegen. Das versuchte Die Partei bis zuletzt vor dem Verfassung­sgerichtsh­of zu verhindern. Dieser hatte die früher geltende Fünf-ProzentHür­de ursprüngli­ch gekippt. Nach drei EUWahlen ohne Sperrklaus­el (2014, 2019 und 2024) machten die Richter im Februar aber den Weg für eine Beschränku­ng im Jahr 2029 frei.

Verlässlic­he Umfragen gibt es für die Kleinen nicht. Die Letzte Generation kündigt jedenfalls an, sie wolle das „Parlament aufmischen“, ihre Spitzenkan­didatin Johnsen nennt sich „Spitzenauf­mischerin“. Zumindest die Chance dazu könnte tatsächlic­h die letzte sein.

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Imago / Eibner-pressefoto/jadranko Marja Bei linken Demos sieht die Letzte Generation potenziell­e Wähler.

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