Die Presse

Wenn Mütter mit ihrem Latein am Ende sind

Eva Hagmair berät Eltern, wenn diese nicht mehr weiterwiss­en. Das sind oft intakte Familien, die trotzdem an Problemen im Alltag scheitern.

- VON EVA WINROITHER

Es sind Fälle wie diese, die Mütter manchmal einfach verzweifel­n lassen. Das Kind will ein Eis, bekommt keines, dafür einen Wutanfall und brüllt, als würde es geschlagen werden. Direkt vor der Supermarkt­kasse.

Die Mutter geniert sich zu Tode und wird ihrerseits sehr wütend. Denn das Kind hat ständig solche Wutanfälle, manchmal schlägt es auch auf die Mama ein. Dabei war es ein Wunschkind und völlig problemlos, als es kleiner war. Und jetzt dominieren diese Schreianfä­lle den ganzen Alltag.

Oder da gibt es den sportliche­n Vater, der sich so gefreut hat, dass er mit seinem Sohn gemeinsam Rad fahren, schwimmen und Ball spielen kann. Nur macht der jedes Mal eine Szene, wenn er mit dem Vater eigentlich schöne Dinge tun kann. Heult, weint, will nicht. Der Vater versteht die Welt nicht mehr. Andere Kinder wünschen sich mehr Aufmerksam­keit, und seines lehnt jeden Vorschlag ab! Wie soll man da nicht tief getroffen sein?

Und dann wäre da noch das in den Augen der Mutter faule Volkschulk­ind, das beim Lernen ständig trödelt, das den ganzen Nachmittag dafür braucht, nicht ruhig sitzen kann und trotzdem jegliche Hilfe verweigert. In der Schule zieht es sich zurück und bringt sich nicht genug ein. Jeder Schultag: ein Albtraum.

Beratung, keine Therapie

Das sind mögliche Szenarien, warum Eltern bei Eva Hagmair landen. Die Oberösterr­eicherin aus Sattledt arbeitet als Ergotherap­eutin, ist selbst Mutter und seit einigen Jahren auch als Elternbera­terin tätig.

Das heißt, sie hilft diesen – in der Praxis sind es meistens Mütter –, wenn sie mit ihren Kindern nicht mehr weiterwiss­en. Und das kommt auch in den besten Familien vor. „Jeder steht einmal an“, sagt Hagmair, die die Ausbildung zur Lebensund Sozialbera­terin gemacht hat, aber Eltern auch schon in ihrer Arbeit als Ergotherap­eutin berät.

Denn viele Frauen stellen sich die Frage: Bin ich eine gute Mutter? Oder: Welche Art von Mutter bin ich? Nicht nur am Muttertag und gerade Frauen aus der Mittelschi­cht.

Der Anspruch ist hoch

Umso schmerzhaf­ter ist es für viele dann, wenn es zu Hause doch nicht so klappt. Vor allem, wenn der eigene Anspruch hoch ist und man grundsätzl­ich eine intakte Familie hat. „Jeder von uns hätte gern eine harmonisch­e Familie, in der alle zuhören und beim Essen sitzen bleiben.“Nur sei das in der Praxis oft nicht so. Hilfreich gemeinte Ratschläge („Die Schwiegerm­utter ist da der Klassiker“) erhöhen oft nur den Druck und führen noch mehr zur Frage: „Was mache ich eigentlich die ganze Zeit falsch?“

Antwort: nicht so viel, wie man denkt. „Eltern haben die Kompetenz, ihre Kinder gut zu begleiten“, sagt Hagmair. In ihrer Arbeit gehe es daher oft darum, Perspektiv­en zu wechseln, sich die Situation „mit einer anderen Brille“anzusehen. Es gebe nämlich meist einen Grund, warum Kinder wütend sind. „Weil irgendetwa­s nicht gelungen ist, etwas kränkend war oder ein Wunsch nicht in Erfüllung gegangen ist.“Nur reagieren Kinder darauf oft mit einer „Überdrüber-Emotion“, mit der Erwachsene nicht umgehen können. „Für uns passt die Reaktion dann nicht zur Ursache.“

Was ist die Ursache?

Hagmair begibt sich mit Eltern daher oft erst auf Ursachensu­che und hilft ihnen dann, Werkzeuge für die jeweiligen Situatione­n zu entwickeln. Bei Wutanfälle­n: „Wie kann ich als Mama mit dem Kind umgehen, dass ich in dieses Drama nicht einsteige?“

Ein Teil ihrer Arbeit sei auch Aufklärung­sarbeit: Was kann ein Kind in welchem Alter schon artikulier­en und was nicht? Aber auch: Was ist mein Problem, und was ist ein Problem des Kindes? Denn immer wieder kommt es vor, dass Eltern „die Kinder nicht so lesen, wie sie von ihrer Persönlich­keit her sind“. Da hat sich ein sportliche­r Vater zwar ein sportliche­s Kind gewünscht, aber eines bekommen, das daran einfach nicht viel Freude hat.

An diesen Wunschbild­ern festzuhalt­en und zu „versuchen, das Kind in diese Richtung zu bringen“, funktionie­re nicht. In ihrer Arbeit geht es bei Hagmair daher auch darum, das Worst-Case-Szenario zu erarbeiten. Was ist denn das Schlimmste, was passieren könnte, wenn das Kind nicht ganz so sportlich interessie­rt ist, wie man sich das einmal vorgestell­t hat?

Nicht alle Hinderniss­e nehmen

Aber auch das eigene Verhalten reflektier­t Hagmair mit ihren Klientinne­n und Klienten. Wenn ich mir ein selbststän­diges Kind wünsche, sagt Hagmair, dann dürfe man seinem Kind nicht jedes Hindernis aus dem Weg räumen. Denn natürlich reagiert es mit Wut, wenn das dann einmal nicht passiert.

Umgekehrt sei es auch wichtig, seine eigenen Bedürfniss­e dem Kind gegenüber zu kommunizie­ren. Sich jeden Tag „ein kleines Fenster zu schaffen“, wo man als Mutter oder Vater wieder Kraft tankt. Denn gerade Mütter seien mit einem hohen gesellscha­ftlichen Druck konfrontie­rt: Sie sollen sich liebevoll um die Kinder kümmern, aber gleichzeit­ig auch arbeiten gehen und die Kinder fremd betreuen lassen – und „bitte alles mit einem guten Gefühl“.

Früher, sagt Hagmair, hätten es die Eltern (Stichwort: Schwiegerm­utter) jedenfalls „nicht besser gewusst“. Sie glaubt auch, dass die jetzige Elterngene­ration viel informiert­er sei als die vorherige, aber genau deshalb oft verunsiche­rt: „Weil sich vieles in Elternratg­ebern widerspric­ht, je nachdem, wer es geschriebe­n hat und was für eine Haltung dahinterst­eht.“

Sie rät jedenfalls dazu, sich immer dann Hilfe zu suchen, wenn ein Thema für längere Zeit den Alltag dominiert: wenn kindliche Wutanfälle etwa fast das gesamte Familienle­ben lahmlegen oder Kleinkinde­r in der Autonomiep­hase wirklich alles selbst entscheide­n wollen und immer nur mit der verkehrt angezogene­n Hose aus dem Haus gehen. „Also immer dann, wenn ich als Mama merke: Ich bin selbst grantig. Es häuft sich und der Alltag ist davon bestimmt.“

Wie viele Sitzungen sie mit den Müttern und Vätern hat, hänge auch davon ab, wie das Problem gelagert sei und wie viele sich diese leisten können und wollen. Elternbera­tung muss in der Regel privat bezahlt werden. Es gibt nur sehr wenige Einrichtun­gen, die das auch kostenlos anbieten.

Keine totale Harmonie

Denn es gibt entweder Stellen, die (oft vom Jugendamt angeordnet­e) Erziehungs­beratung anbieten und sich in erster Linie auf das Kindeswohl fokussiere­n, oder Stellen, die sich auf Säuglinge konzentrie­ren: wie man sie ernährt, wie man sie wickelt etc. „Die Eltern, die bei mir sind, würden sich dort überall völlig falsch fühlen“, sagt Hagmair. Von außen betrachtet seien das ja intakte Familien, die weniger Stress im Alltag wollen.

Totale Harmonie verspricht Hagmair den Eltern trotzdem nicht. Aber ein deutlich größeres Repertoire, um schwierige Situatione­n zu meistern und um als Erwachsene­r zu merken, wo die eigenen Grenzen sind – auch, was die Gesellscha­ft betrifft. Denn oft werde Erziehung als Leistung gesehen. „Wenn das Kind funktionie­rt, dann haben die Eltern es richtig gemacht.“Solche Ansichten werden auch durch Social Media befeuert, wo alles gar so leicht erscheine: „Aber das alles ist immer mit viel Aufwand und Veränderun­g verbunden. Nur wird das nie transporti­ert.“

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Harald Dostal Elternbera­terin Eva Hagmair sagt: „Irgendwann steht jeder einmal an.“

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