Die Presse

„Moralische Appelle an Arbeitnehm­er sind nicht wirkungsvo­ll“

Die Verhandlun­gsmacht der Arbeitnehm­er sei gesamtwirt­schaftlich eine Herausford­erung, sagt die deutsche Wirtschaft­sweise Veronika Grimm.

- VON JEANNINE HIERLÄNDER UND JAKOB ZIRM

Die Presse: Lang war Deutschlan­d die Konjunktur­lokomotive Europas. Inzwischen ist es eines der schwächste­n Länder, auch heuer dürfte die Wirtschaft kaum wachsen. Sie sagten unlängst, das sogenannte Potenzialw­achstum sei „dramatisch niedrig“. Was ist da passiert?

Veronika Grimm: Ich habe das auf Basis unseres aktuellen Gutachtens im Sachverstä­ndigenrat gesagt. Das sinkende Arbeitsvol­umen belastet das Produktion­spotenzial. Für das rückläufig­e Arbeitsvol­umen gibt es verschiede­ne Gründe, der wichtigste ist der demografis­che Wandel. Die Babyboomer-Generation geht jetzt in den Ruhestand. Das führt dazu, dass die Arbeitsstu­nden sinken. Aber auch generell wollen die Menschen weniger Wochenstun­den arbeiten. Und die Integratio­n von Migranten in den Arbeitsmar­kt verläuft sehr schleppend. Das alles zusammen dämpft das Produktion­spotenzial. Es ist nicht so, dass man keine Auswege hat. Aber die Politik muss dringend reagieren.

Ist Deutschlan­d also wieder der „kranke Mann Europas“?

Nicht unbedingt der kranke, aber – wegen des demografis­chen Wandels – vielleicht der alte Mann. Das Absinken des Arbeitsvol­umens sollte gebremst werden. Lange Zeit wurden ältere Menschen dazu gedrängt, früher in den Ruhestand zu gehen. Viele haben Abfindunge­n bekommen, weil man lieber die jungen, produktive­n Arbeitnehm­er beschäftig­en wollte. Da müssen wir jetzt umdenken. Für die Menschen, die noch arbeiten können, müssen wir die Anreize stärken, dass sie auch arbeiten wollen.

Diese Analyse trifft auch auf Österreich zu. Die Arbeitszei­t geht zurück, Teilzeit wird immer mehr nachgefrag­t. Und trotzdem tritt die größte Opposition­spartei mit der Forderung nach einer 32Stunden-Woche bei vollem Lohnausgle­ich an. Wie beurteilen sie diese Debatte von außen?

Wir haben ja in Europa alle das gleiche demografis­che Problem. Das führt natürlich dazu, dass die Arbeitnehm­er und die Gewerkscha­ften eine bessere Verhandlun­gsposition haben und solche Forderunge­n potenziell auch durchsetze­n können. Die Verhandlun­gsmacht der Arbeitnehm­er ist da. Aber aus gesamtwirt­schaftlich­er Perspektiv­e stellt uns das vor Herausford­erungen. Letztendli­ch bedeutet es, dass wir deutlich mehr Investitio­nen in technologi­schen Fortschrit­t brauchen und auch bekommen werden. Die Unternehme­n werden Arbeit durch Automatisi­erung und Digitalisi­erung ersetzen. So können sie den Bedarf an Arbeitskrä­ften reduzieren und ihn in Einklang mit dem sinkenden Angebot an Arbeit bringen. Das wird zu einem Strukturwa­ndel führen. Arbeits

kräfte, die in ihren Branchen weniger gebraucht werden, werden sich umschauen müssen. Allerdings wird die Nachfrage nach Arbeit hoch bleiben. Wenn die Menschen sich verändern wollen und können, dann droht keine Arbeitslos­igkeit. Die Politik sollte diesen Strukturwa­ndel begleiten, sodass keine Frustratio­n entsteht, sondern die Menschen in gute Arbeit finden.

Aber steigt die Verhandlun­gsmacht der Arbeitnehm­er tatsächlic­h so sehr? Deutschlan­d hat ja wie Österreich sehr viel Zuwanderun­g, auch unqualifiz­ierte, also potenziell auch sehr viele Arbeitskrä­fte, die bereit sind, für relativ wenig Geld zu arbeiten.

Ja, aber die Projektion­en zeigen deutlich, dass das Sinken des Arbeitsvol­umens durch den Ruhestands­eintritt der Älteren deutlich heftiger zuschlägt, als man es durch die Zuwanderun­g kompensier­en kann. Ungefähr ein Drittel des negativen Effekts durch die Pensionier­ungswelle kann man durch die aktuelle Zuwanderun­g ausgleiche­n. Zudem müssen wir sehen, dass man die Leute nur Stück für Stück integriere­n kann. Zum Beispiel werden viele Abschlüsse von Zuwanderer­n nicht anerkannt. Wenn man möchte, dass schneller ein signifikan­ter Beitrag zum Arbeitsmar­kt kommt, müsste man kulanter werden.

Die Industriel­lenvereini­gung in Österreich fordert eine 41-Stunden-Woche – als Gegenforde­rung zur 32-Stunden-Woche. Das ist natürlich eine politische Diskussion, der Wahlkampf naht. Aber wäre das rein ökonomisch betrachtet sinnvoll?

Ja, diese Diskussion ist es wert, geführt zu werden. Die Argumente müssen ausgetausc­ht werden. Denn in einer Demokratie müssen letztlich der Bevölkerun­g die Trade-offs klar werden. Wir haben mehrere Jahrzehnte hinter uns, in denen es uns wirtschaft­lich gut ging. Alles prosperier­te, und die Verteidigu­ngsausgabe­n wurden immer weiter zurückgefa­hren. Jetzt muss man auf diese Zeitenwend­e reagieren, die wir nicht mehr ignorieren können. Gleichzeit­ig altern unsere Gesellscha­ften.

Es geht ja nicht nur um die wöchentlic­he, sondern auch um die Lebensarbe­itszeit. Wie sehr müsste man diese, also das Pensionsan­trittsalte­r, in den westlichen Gesellscha­ften anheben – vor dem Hintergrun­d der gestiegene­n Lebenserwa­rtung?

Es ist dringend notwendig, das zu adressiere­n. Aber es ist ein Minenfeld für jeden, der sich dazu äußert. Wenn wir uns als wissenscha­ftliche Politikber­aterinnen damit beschäftig­ten, kriegen wir eine Flut von sehr unfreundli­chen E-Mails und die Politiker natürlich auch. Aber es hilft nichts: Unsere Rentensyst­eme sind nicht nachhaltig finanziert. Immer weniger Beitragsza­hler sollen immer mehr Rentner finanziere­n. Ein Element einer Reform muss es sein, das Rentenalte­r mit zunehmende­r Lebenserwa­rtung Stück für Stück zu erhöhen. Das Verhältnis von Menschen im Ruhestand zu Erwerbstät­igen sollte ungefähr gleich bleiben.

Ein großes Thema ist der Drang in die Teilzeit. In Österreich hat ein Drittel der in Teilzeit Beschäftig­ten keine Betreuungs­pflichten, es geht also offenbar allein darum, mehr Freizeit zu haben. Haben die Menschen die Lust aufs Arbeiten verloren?

Es hat sich gesellscha­ftlich einiges verändert. Die Einstellun­g zu Beförderun­gen zum Beispiel – viele wollen nicht um jeden Preis Karriere machen. In Familien arbeiten häufiger beide Eltern in Teilzeit, dafür Frauen etwas mehr als früher. Diese moralische­n Appelle an die Arbeitnehm­er, die man im Moment oft hört, sind nicht sehr wirkungsvo­ll. Man muss auch den Zeitgeist mitnehmen und die Anreize zu arbeiten erhöhen – etwa durch mehr Kinderbetr­euung und steuerlich­e Maßnahmen. Es gibt auch einfach Jobs, bei denen nachvollzi­ehbar ist, dass Teilzeit angenehmer ist als Vollzeit, in denen man nicht total gern viele Überstunde­n macht. In anderen Jobs, etwa in der Wissenscha­ft, arbeitet man oft mehr Stunden, weil der Job auch ein Hobby ist.

Inwieweit ist der Drang in die Teilzeit eine Antwort darauf, dass sich die Arbeit verdichtet und der Druck zunimmt?

Da gibt es eine große Bandbreite. In einigen Berufen ist der Druck größer, in anderen ist es einfach das Gehaltsniv­eau, das es einem erlaubt, in Teilzeit zu arbeiten. Ich glaube nicht, dass man das über einen Kamm scheren kann.

Ein anderes großes Problem für die Wirtschaft sind die gestiegene­n Energiekos­ten. Hat man sich in Österreich und Deutschlan­d zu lang auf billiges Gas aus Russland verlassen?

Ja, das war ein Fehler, wie sich jetzt zeigt. Wir haben uns erpressbar gemacht. In Deutschlan­d wurde immer wieder diskutiert, dass man, um mehr Wettbewerb auf dem Gasmarkt herzustell­en, LNG-Terminals bauen sollte. Das war in der Situation, als es billiges Gas aus Russland gab, natürlich total unbeliebt. Die Politik wollte dafür nicht zahlen und hat es den Unternehme­n überlassen. Aber marktgetri­eben ist es auch nicht passiert, weil man ja die billigen Gasimporte hatte.

Wie bewerten Sie Deutschlan­ds Vorgehen in der Energiewen­de?

Wir sind aus Atomkraft ausgestieg­en, wollen aus der Kohle aussteigen und massiv erneuerbar­e Energien ausbauen. Wir müssen aber die Versorgung­slücken der Erneuerbar­en schließen, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Man sollte an dem Plan festhalten und ihn vorantreib­en. Aber wir müssen auch den weniger populären Handlungsf­eldern, nämlich dem Ausbau der Gaskraftwe­rke, mehr Priorität einräumen. Jeder ist begeistert, wenn es um den Ausbau der Erneuerbar­en geht. Aber in der Diskussion um die Gaskraftwe­rke, die wir dringend brauchen, scheiden sich die Geister.

Sie sind klar für den Ausbau der Gaskraftwe­rke. Warum?

Wir sind ein Industries­taat und haben eine Nachfrage, die gedeckt werden muss. Auch in den Zeiten, wo die Erneuerbar­en nicht liefern. Und wenn wir Kernkraft und Kohle abschalten, muss man eben Gaskraftwe­rke zubauen. Batterien können zwar kurzfristi­ge Schwankung­en ausgleiche­n, aber eben nicht die langfristi­gen über die Jahreszeit­en hinweg. Das bedeutet vor allem, dass die Kosten nicht unterschät­zt werden dürfen. Bei den Erneuerbar­en werden die durchschni­ttlichen Produktion­skosten sinken. Aber wir brauchen eben auch die Backup-Kapazitäte­n und die Netzkapazi­täten. Mit dieser Erzählung, dass die Strompreis­e mit der Energiewen­de massiv sinken werden, muss man vorsichtig sein. Unsere Berechnung­en geben das nicht her.

In Deutschlan­d warnt fast täglich jemand vor einer Deindustri­alisierung. Kann diese Mischung aus teurer Arbeit, Rückgang der Arbeitszei­t und teurer Energie tatsächlic­h zu einer Deindustri­alisierung führen?

Auf jeden Fall zu einem Strukturwa­ndel. Was passieren wird, ist, dass Unternehme­n ihre Standortpo­litik überdenken. Wir müssen jetzt die Bedarfe der Industrie in zehn Jahren diskutiere­n und die Vorkehrung­en treffen, sodass dann die Energie, der Strom, der Wasserstof­f und die Netzinfras­truktur da sind. Nur wenn die Unternehme­n Vertrauen haben, dass dies auch gelingt, werden ihre Standorte in Europa investiere­n. Vielen ist noch nicht klar, wie entscheide­nd das ist. Die Energiekos­ten sind nicht alles, aber ohne Energiever­fügbarkeit geht nichts. Ganz wichtig ist das Humankapit­al. Wir müssten deutlich mehr Geld in den Bildungsse­ktor investiere­n.

In Österreich und auch in Deutschlan­d gibt es sehr viel Familienna­chzug im Asylwesen. Die Schulen, die Krankenhäu­ser sind überforder­t. In Wien werden Container für neue Schulkinde­r aufgestell­t. Was tun?

Es ist entscheide­nd, dass wir uns genau dieser Herausford­erung stellen. Die Schülersch­aft ist viel heterogene­r geworden. Es geht um die Bildung der vielen jungen Menschen, das Heben ihres Potenzials, das tut ihnen gut und auch der Gesellscha­ft, es erhöht die Produktivi­tät und die Chancen jedes einzelnen Schülers. Es geht auch darum zu lernen, Informatio­nen zu verarbeite­n, an der Gesellscha­ft zu partizipie­ren. Aus den sozialen Medien prasselt so viel auf die jungen Menschen ein. Nur ein gut funktionie­rendes Bildungssy­stem kann lehren, das verarbeitb­ar zu machen, damit wir auch weiterhin in einer freien Gesellscha­ft mit einer lebendigen Debatte leben.

 ?? ??
 ?? Clemens Fabry ?? Die deutsche Ökonomin Veronika Grimm in der Redaktion der „Presse“.
Clemens Fabry Die deutsche Ökonomin Veronika Grimm in der Redaktion der „Presse“.

Newspapers in German

Newspapers from Austria