Wie man Russland zähmen kann
Gleichgewicht und Einbindung: Österreichs Außenminister Metternich demonstrierte einst, wie man für Europa ein stabiles Sicherheitssystem schaffen kann.
Es gibt nur zwei Mächte in der Welt, den Säbel und den Geist. Auf die Dauer wird der Säbel immer vom Geist besiegt“, so Napoleon, als er 1814 im Exil auf der Insel Elba zum Nachdenken gekommen war. Der Mann mit dem Säbel, das war er selbst, der überlegene Geist sein größter Gegner, dessen Schrittfür-Schritt-Politik zu seiner Entmachtung geführt hatte: Clemens Fürst von Metternich, Österreichs Außenminister.
Doch der wusste den Satz noch besser zu formulieren: Die beste Politik entspringe nicht so sehr dem Geist, sondern eher dem Charakter, sagte er einmal. Verstand lasse sich üben, Charakterstärke habe man oder man habe sie nicht. Ohne eine Miene zu verziehen in den kompliziertesten Situationen lang zu überlegen, nicht den bequemsten Ausweg zu suchen, nicht das kurzlebige Erfolgsgefühl, sondern immer auch die Konsequenzen in der Zukunft zu bedenken: Das mache die Stärke des menschlichen Charakters aus.
Den Höhepunkt seiner Staatskunst erreichte Österreichs Kanzler in den Jahren 1813 und 1814. Es ist kein Zufall, dass diese zwei Jahre genau in der Mitte einer neuen biografischen Darstellung Metternichs zu finden sind. Muamer Bećirović, der noch junge Autor, aus dessen Masterarbeit das Buch hervorgegangen ist, kann seine Bewunderung für seinen Helden nicht verbergen. Er scheint Napoleons Satz zuzustimmen, dass es sich bei Metternich um „den einzigen Staatsmann handle, den es in Europa seit der Revolution gegeben hat“. Da ist er nicht allein. „Stratege und Visionär“ist der Untertitel von Wolfram Siemanns großer Metternich-Biografie, „The First European“schreibt Desmond Seward.
Kluges diplomatisches Netz
All das, wofür Metternich später kritisiert wurde, seine innenpolitische Rolle im vormärzlichen Österreich, seine Reformverweigerung, seine Polizeistaatsmethoden, sind auch gar nicht Thema des Buches, auch nicht die Zeit nach 1848 und nicht sein Privatleben, seine Liebesbeziehungen, in unzähligen Büchern über den Wiener Kongress breitgetreten. Bećirovićs Thema ist fast ausschließlich die Diplomatie, das Ringen Metternichs um die europäische Balance, seine Staatskunst. Nach einigen Kapiteln über Herkunft und Bildungsweg sowie seine ideologischen Fundamente begegnet man über viele Seiten ausschließlich dem klugen diplomatischen Netz, mit dem der Diplomat Metternich seinen Gegner Napoleon überzog.
Metternichs Außenpolitik, so Bećirović, ist nur verstehbar, wenn man die geografische Lage des österreichischen Kaiserstaats im Blick hat. Als ein Staat, der im Herzen des Kontinents lag, war er in allen vier Himmelsrichtungen von mächtigen potenziellen Feinden umgeben, von Preußen, dem Osmanischen Reich, Russland und Frankreich. Die übrigen Staaten brauchten ihre ganze militärische Kraft nur auf Offensiven an ein bis zwei Fronten konzentrieren, Großbritannien konnte als Insel überhaupt auf eine gute Beziehung zu seinen Nachbarn verzichten und sich bei Bedarf einfach zurückziehen. Aber Österreich musste sich nach allen vier Himmelsrichtungen absichern. Schon ein Krieg an drei Fronten gefährdete unmittelbar die Existenz der Monarchie – ein unlösbares strategisches Dilemma.
Durch seine Lage im Herzen des Kontinents war Österreich wiederum leicht in jeden Konflikt involviert. Als natürliche Defensivmacht war es also zu geopolitischem Taktieren gezwungen, es musste auf die Erhaltung des Status quo achten. Die beste Absicherung war, die Kräfteverhältnisse richtig einzuschätzen, sich nicht auf die eigene militärische Stärke zu verlassen, sondern darauf zu achten, dass sich die anderen gegenseitig neutralisierten. Diese Kunst beherrschte Metternich.
„Ich hasse den Krieg“
„Ich hasse den Krieg und alles, was er mit sich bringt: das Morden, die Schmerzen, die Schweinereien, die Plünderungen, die Leichen, die Amputierten, die toten Pferde – und ebenso die Vergewaltigungen“, schrieb er, als er bei der Fahrt in seiner Kutsche 1813 die verwüsteten Landstriche sah. Napoleon war durch den katastrophal verlaufenen Feldzug in Russland (1812) geschwächt und war in der Völkerschlacht von Leipzig 1813 den verbündeten Heeren von Österreich, Preußen und Russland unterlegen. Er stand mit dem Rücken zur Wand. In diesem Moment versuchte Metternich, Napoleon zu bewegen, den von ihm entworfenen gemäßigten Friedensbedingungen zuzustimmen. Ohne Erfolg.
Es kommt dem Buch auch zugute, dass es die Protagonisten selbst zu Worte kommen lässt, so etwa bei dem berühmten Treffen zwischen Metternich und dem schwer angeschlagenen Napoleon im Juni 1813 in Dresden. Alle Konflikte der zurückliegenden Zeit mündeten in diesem Gespräch. „Heute können Sie noch Frieden schließen, morgen dürfte es zu spät sein“, so ein selbstbewusster Metternich. Darauf die berühmte Antwort Napoleons: „Ihre ebenbürtigen Herrscher können, zwanzigmal geschlagen, immer wieder in ihre Residenzen zurückkehren, das kann ich nicht. Ich bin der Sohn des Glücks; von dem Tage an, wo ich aufhörte, mächtig zu sein, und folglich nicht mehr Achtung gebieten könnte, würde meine Herrschaft ihr Ende erreicht haben.“Napoleon offenbarte hier, wo er schwach war. Und schließlich: „Ein Mann wie ich scheißt auf das Leben von einer Million Menschen!“Metternich nützte solche Sätze, um seinem Kaiser Franz I. die Augen zu öffnen: Mit so einem Schwiegersohn war nicht zu reden.
Russland und das Machtvakuum
Die Gefahr bestand nun darin, dass Frankreich bei einer totalen Niederlage als Gewicht in Europa völlig ausfallen und Russland das Vakuum auffüllen würde. Die hegemonialen Träume von Zar Alexander I. waren überdeutlich. Metternichs Politik war es daher, eine ausgewogene Situation in Europa zu schaffen, ohne dominante Macht. Also moderate Friedensbedingungen mit Frankreich, ein Engagement Englands auf dem Kontinent. Es galt, die Existenz eines großen Staates wie Frankreich zu respektieren, weil man mit ihm über historische Zeiträume zusammenleben musste. Daher bot er während des Kriegs Napoleon immer wieder den Frieden an.
Seine Nachfolger hörten nicht mehr auf ihn. „Sie haben seine Außenpolitik nicht verstanden“, schreibt Bećirović, „sie verließen sich mehr auf das Militär und Bündnisse als auf Handlungsfreiheit, moralische Oberhoheit und Diplomatie.“Was war also das Geheimnis hinter Metternichs Außenpolitik? Bećirović: „Metternich war weise genug zu wissen, dass eine grenzenlose, zynische Realpolitik unter Großmächten früher oder später zu ihrer eigenen Vernichtung führen musste.“Schierer Eigennutz bedeute gegenseitige Zerstörung. Ohne eine Mischung von Macht und Moral gleite Europa in die Extreme und die Katastrophe ab, wie es dann schließlich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs auch geschah.
Die Expansion Russlands in Europa als Folge der Niederlage Frankreichs zu verhindern, war eine bedeutende Leistung Metternichs. „Was Schröder und Merkel von Metternichs Außenpolitik hätten lernen können“, betitelte daher die Zeitung „Die Welt“ihre Besprechung des Buches. Die geostrategische Lage Deutschlands heute sei durchaus mit der des Österreich von damals zu vergleichen. Auch heute hängen Wohlstand und Einfluss vom Frieden und dem Gleichgewicht der Mächte ab, eine ausgleichende Politik sei für Deutschland unabdingbar. „Metternich hatte alles getan, um genau das – Gleichgewicht und Frieden – zu erreichen. Diese historische Aufgabe haben Schröder und Merkel nicht gelöst“, heißt es in der Rezension.