Du hörst, wenn etwas nicht passt
Der erste Schrei eines Neugeborenen verrät uns viel. Ein Grazer Team bestimmt an Aufnahmen von Frühgeborenen deren Lungenfunktion.
Den ersten Fußabdruck des Babys hat fast jede Familie zu Hause. Doch wer hat eine Erinnerung an den ersten Schrei? Wenn nicht die ganze Action auf Video ist, gibt es keinen Beleg, wie die ersten Laute geklungen haben. Dabei steckt darin eine Menge Information. Florian Pokorny von der Med-Uni Graz will an den Lauten der Neugeborenen ihre Gesundheit bestimmen.
Er entwickelt eine Audio-Analyse, die an über 6000 Parametern der ersten Lautäußerungen den Entwicklungsstand der Lunge und mögliche Erkrankungen erkennt. Nach dem Elektrotechnik-Studium an der TU Graz spezialisierte sich der Toningenieur auf Sprachsignalverarbeitung und maschinelles Lernen. „In meiner Doktorarbeit habe ich die automatische Früherkennung von Entwicklungsstörungen anhand von Lautäußerungen beforscht“, sagt Pokorny. Da ging es speziell um das Autismus-Spektrum und eine seltene genetische Erkrankung (Rett-Syndrom), bei denen jeweils das erste Lebensjahr
unauffällig verläuft. In Home-Videos der betroffenen Familien filterte Pokorny im Nachhinein die Laute der Babys heraus, um etwaige Auffälligkeiten zu entdecken. Zusätzlich erhielt er Daten von Kindern mit und ohne Autismus aus einer schwedischen Langzeitstudie.
Filme aus den Familien
„Bei den Home-Videos gab es das Problem, dass die Familie meist nur die schönen Momente festhält. Aber wir konnten trotzdem einige auffällige Laute sammeln.“Die Audioanalysen helfen, so früh wie möglich einen Hinweis auf die Erkrankungen zu finden, um früher als bisher mit Therapien zu starten.
In einem weiteren Projekt fokussierte Pokorny an der Med-Uni Graz auf Laute, die Kinder im Alter von drei Monaten machen: Was ist in dem Alter normal, welche Auffälligkeiten kann man aus den Lautäußerungen heraushören, und wann deuten Abweichungen auf Erkrankungen hin? Dazu braucht es nicht nur Ohren und Sound-Software, sondern eine künstliche Intelligenz (KI): Das Team füttert die Algorithmen mit den Babylauten und lässt die Maschine lernen, was „normal“ist und was nicht.
Für das jetzige Projekt, das vom Land Steiermark im UFO-Programm (Unkonventionelle Forschung) gefördert wird, geht Pokorny zu dem frühesten Zeitpunkt, an dem man die Stimme untersuchen kann. Erfahrene Ärztinnen, Ärzte und Hebammen berichten, dass sie oft am Schrei eines Neugeborenen erkennen, wenn irgendwas nicht passt. Pokorny will mit einem stimmbasierten Screening im Kreißsaal dieses Gefühl quantifizierbar machen und technisch auf verlässliche Beine stellen.
Schreien nur Gesunde laut?
Die Ansicht, dass ein gesundes Kind kräftig schreit, ist historisch gewachsen, aber nicht ganz korrekt. „Es gibt gesunde Kinder, die nicht schreien, und es gibt kräftige Laute von Kindern, die eine Erkrankung haben. Unsere Analyse geht viel tiefer und vergleicht die Qualität des Schreis“, sagt Pokorny. Einer der über 6000 Parameter in der KI-Auswertung ist das „Delay“, also die Zeitspanne
zwischen Geburt und erstem Schrei. „Zur klinischen Relevanz dieser Verzögerung gibt es bereits Studien. Aber insgesamt sind die ersten Lautäußerungen von Neugeborenen sehr schlecht erforscht“, weiß Pokorny, der weltweit Forschungsdaten durchforstet hat.
In seiner Pionierarbeit konzentriert er sich auf die Entwicklung der Lunge. „Der Schrei ist physiologisch damit verbunden, wie der Luftstrom aus der Lunge herauskommt“, sagt Pokorny. Denn im Mutterbauch ist die Lunge des Fötus mit Fruchtwasser gefüllt. Bei der Geburt wird die Flüssigkeit beim ersten Einatmen in das umgebende Gewebe der Lunge gepresst. Der Schrei ist zu hören, wenn diese erste Luft wieder aus der Lunge hinausströmt.
„Ein Teil der Luft wird an den Stimmlippen reflektiert und geht zurück Richtung Lunge, sodass das Fruchtwasser gebremst wird, das wieder in die Lunge wandert“, erklärt der Forscher. „Im Schnitt sind 43 Laute erforderlich, bis das Fruchtwasser gänzlich draußen ist und die Lunge mit Luft gefüllt bleibt. Dabei verändert sich natürlich die Akustik.“Mit der Einwilligung aller im Kreißsaal Anwesenden sammelt Pokorny jetzt in Graz die Laute der Neugeborenen mit einem kleinen Aufnahmegerät, das keine Abläufe behindert.
Überstellung im Hubschrauber
Die KI lernt, die Entwicklung der Früh- und Termingeborenen zu erkennen, und meldet in Zukunft, ob das Baby eine Lungenreife-Behandlung benötigt oder nicht. Diese Verabreichung von Surfactant hilft, die Lungenbläschen offen zu halten, und wird nur in speziellen NeonatologieStationen durchgeführt. Die Entscheidung, ob ein Frühgeborenes mit dem Hubschrauber nach Graz geflogen werden muss oder nicht, soll schneller als bisher möglich sein.
„In Folgeprojekten möchten wir automatisch Kinder mit Atemnotsyndromen erkennen“, ergänzt Pokorny. Und er will herausfinden, ob die Laute der ersten Minuten im Leben auch Gehirnschädigungen durch Sauerstoffmangel und andere neurologische Erkrankungen anzeigen können.