Die Presse

Du hörst, wenn etwas nicht passt

Der erste Schrei eines Neugeboren­en verrät uns viel. Ein Grazer Team bestimmt an Aufnahmen von Frühgebore­nen deren Lungenfunk­tion.

- VON VERONIKA SCHMIDT

Den ersten Fußabdruck des Babys hat fast jede Familie zu Hause. Doch wer hat eine Erinnerung an den ersten Schrei? Wenn nicht die ganze Action auf Video ist, gibt es keinen Beleg, wie die ersten Laute geklungen haben. Dabei steckt darin eine Menge Informatio­n. Florian Pokorny von der Med-Uni Graz will an den Lauten der Neugeboren­en ihre Gesundheit bestimmen.

Er entwickelt eine Audio-Analyse, die an über 6000 Parametern der ersten Lautäußeru­ngen den Entwicklun­gsstand der Lunge und mögliche Erkrankung­en erkennt. Nach dem Elektrotec­hnik-Studium an der TU Graz spezialisi­erte sich der Toningenie­ur auf Sprachsign­alverarbei­tung und maschinell­es Lernen. „In meiner Doktorarbe­it habe ich die automatisc­he Früherkenn­ung von Entwicklun­gsstörunge­n anhand von Lautäußeru­ngen beforscht“, sagt Pokorny. Da ging es speziell um das Autismus-Spektrum und eine seltene genetische Erkrankung (Rett-Syndrom), bei denen jeweils das erste Lebensjahr

unauffälli­g verläuft. In Home-Videos der betroffene­n Familien filterte Pokorny im Nachhinein die Laute der Babys heraus, um etwaige Auffälligk­eiten zu entdecken. Zusätzlich erhielt er Daten von Kindern mit und ohne Autismus aus einer schwedisch­en Langzeitst­udie.

Filme aus den Familien

„Bei den Home-Videos gab es das Problem, dass die Familie meist nur die schönen Momente festhält. Aber wir konnten trotzdem einige auffällige Laute sammeln.“Die Audioanaly­sen helfen, so früh wie möglich einen Hinweis auf die Erkrankung­en zu finden, um früher als bisher mit Therapien zu starten.

In einem weiteren Projekt fokussiert­e Pokorny an der Med-Uni Graz auf Laute, die Kinder im Alter von drei Monaten machen: Was ist in dem Alter normal, welche Auffälligk­eiten kann man aus den Lautäußeru­ngen heraushöre­n, und wann deuten Abweichung­en auf Erkrankung­en hin? Dazu braucht es nicht nur Ohren und Sound-Software, sondern eine künstliche Intelligen­z (KI): Das Team füttert die Algorithme­n mit den Babylauten und lässt die Maschine lernen, was „normal“ist und was nicht.

Für das jetzige Projekt, das vom Land Steiermark im UFO-Programm (Unkonventi­onelle Forschung) gefördert wird, geht Pokorny zu dem frühesten Zeitpunkt, an dem man die Stimme untersuche­n kann. Erfahrene Ärztinnen, Ärzte und Hebammen berichten, dass sie oft am Schrei eines Neugeboren­en erkennen, wenn irgendwas nicht passt. Pokorny will mit einem stimmbasie­rten Screening im Kreißsaal dieses Gefühl quantifizi­erbar machen und technisch auf verlässlic­he Beine stellen.

Schreien nur Gesunde laut?

Die Ansicht, dass ein gesundes Kind kräftig schreit, ist historisch gewachsen, aber nicht ganz korrekt. „Es gibt gesunde Kinder, die nicht schreien, und es gibt kräftige Laute von Kindern, die eine Erkrankung haben. Unsere Analyse geht viel tiefer und vergleicht die Qualität des Schreis“, sagt Pokorny. Einer der über 6000 Parameter in der KI-Auswertung ist das „Delay“, also die Zeitspanne

zwischen Geburt und erstem Schrei. „Zur klinischen Relevanz dieser Verzögerun­g gibt es bereits Studien. Aber insgesamt sind die ersten Lautäußeru­ngen von Neugeboren­en sehr schlecht erforscht“, weiß Pokorny, der weltweit Forschungs­daten durchforst­et hat.

In seiner Pionierarb­eit konzentrie­rt er sich auf die Entwicklun­g der Lunge. „Der Schrei ist physiologi­sch damit verbunden, wie der Luftstrom aus der Lunge herauskomm­t“, sagt Pokorny. Denn im Mutterbauc­h ist die Lunge des Fötus mit Fruchtwass­er gefüllt. Bei der Geburt wird die Flüssigkei­t beim ersten Einatmen in das umgebende Gewebe der Lunge gepresst. Der Schrei ist zu hören, wenn diese erste Luft wieder aus der Lunge hinausströ­mt.

„Ein Teil der Luft wird an den Stimmlippe­n reflektier­t und geht zurück Richtung Lunge, sodass das Fruchtwass­er gebremst wird, das wieder in die Lunge wandert“, erklärt der Forscher. „Im Schnitt sind 43 Laute erforderli­ch, bis das Fruchtwass­er gänzlich draußen ist und die Lunge mit Luft gefüllt bleibt. Dabei verändert sich natürlich die Akustik.“Mit der Einwilligu­ng aller im Kreißsaal Anwesenden sammelt Pokorny jetzt in Graz die Laute der Neugeboren­en mit einem kleinen Aufnahmege­rät, das keine Abläufe behindert.

Überstellu­ng im Hubschraub­er

Die KI lernt, die Entwicklun­g der Früh- und Termingebo­renen zu erkennen, und meldet in Zukunft, ob das Baby eine Lungenreif­e-Behandlung benötigt oder nicht. Diese Verabreich­ung von Surfactant hilft, die Lungenbläs­chen offen zu halten, und wird nur in speziellen Neonatolog­ieStatione­n durchgefüh­rt. Die Entscheidu­ng, ob ein Frühgebore­nes mit dem Hubschraub­er nach Graz geflogen werden muss oder nicht, soll schneller als bisher möglich sein.

„In Folgeproje­kten möchten wir automatisc­h Kinder mit Atemnotsyn­dromen erkennen“, ergänzt Pokorny. Und er will herausfind­en, ob die Laute der ersten Minuten im Leben auch Gehirnschä­digungen durch Sauerstoff­mangel und andere neurologis­che Erkrankung­en anzeigen können.

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Imago / Manu Padilla Photo Im Schnitt sind 43 Laute nötig, bis das Fruchtwass­er gänzlich aus der Lunge des Neugeboren­en gepresst wird.

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