Reden wir über das, was wir gerade verlieren
Den Glauben früherer Generationen, dass eine schönere Zukunft vor uns liegt, können wir nicht mehr teilen. Und schon gar nicht den, dass die Kinder ein besseres Leben haben werden als wir.
Aufgrund eines Todesfalls, der mir für lange Zeit mein Gefühl psychischer Intaktheit raubte, musste ich in den vergangenen Jahren viel über Verluste nachdenken. Über kleine und große, persönliche und gemeinschaftliche Verluste. Beim privaten Verlust, mit dem ich mich auseinandersetzen musste, handelte es sich um den Tod meines Vaters – ein Verlust, den wir im Laufe unseres Lebens fast alle erfahren, der mich dennoch aus der Bahn warf. Beim kollektiven Verlust um den des Gefühls der Stabilität. Beide Verluste schienen zunächst wenig miteinander zu tun zu haben. Erst spät bemerkte ich, wie schwer es mir fiel, sie für mich persönlich voneinander zu trennen. Und noch viel schwerer, sie zu akzeptieren. Was die Erfahrung beider Verluste für mich verband, war die Kraft meines Verdrängens.
Einen Teil dieser Zeit verbrachte ich in Venedig, einer Stadt, die ich liebe. Und auch eine Stadt, in die seit dem 19. Jahrhundert Touristen und Touristinnen fahren, um sie noch ein letztes Mal zu sehen, bevor sie untergeht. Venedig ist sehr viel weniger morbid als viele denken. Im Gegenteil. Hinter seinen unfassbar schönen Freiluftmuseum-Fassaden verbirgt sich eine hochmoderne Stadt, die den politischen und klimatischen Entwicklungen, denen wir derzeit akut ausgesetzt sind, schon seit einigen Jahrzehnten trotzt. Vielleicht war das auch ein Grund, warum es mich dorthin zog.
Wenn Sie zu der Mehrzahl der Menschen in Europa gehören, die nicht in Venedig, nicht auf einer griechischen Insel, nahe einem Alpengletscher oder im deutschen Ahrtal leben, werden Sie beim Lesen der Überschrift dieses Textes vielleicht gedacht haben: Warum Verluste? Was hat der Klimawandel mit Verlusten zu tun? Mit Zukunftssorgen, gewiss, mit Ängsten bezüglich der kommenden Jahre. Aber was sollen wir verloren haben?
Und ich könnte an dieser Stelle einwenden: So viel. So viel mehr, als Sie glauben. So viel mehr, als wir begreifen können. Die meisten von Ihnen werden die Fakten kennen. Wir erleben den größten Verlust der Artenvielfalt seit zehn Millionen Jahren, das sechste große Massensterben in der Geschichte unseres Planeten, dieses Mal menschengemacht. Jeden Monat messen wir die höchsten Temperaturen, die jemals aufgezeichnet wurden, und schon jetzt hat das unseren Alltag unwiederbringlich verändert. Während in einigen Regionen der Welt die Wälder brennen, leiden andere unter Starkregen, Wirbelstürmen und katastrophalen Überschwemmungen und wieder andere unter nie da gewesenen Dürreperioden. Schon heute sorgen diese Extremwetterlagen für die Flucht Hunderttausender Menschen in andere Teile der Welt, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird ihre Zahl auf Millionenhöhe steigen. Vergangenen Sommer war die Menge des Meereises in der Antarktis so gering wie es, mathematisch gesehen, nur alle 30 Millionen Jahre vorkommen sollte. Aufgrund von Gesteinsablagerung rief auch die Geologie das Erdzeitalter des Anthropozäns, der menschengemachten Katastrophen, aus, das bis dahin nur als geisteswissenschaftliche Idee existiert hatte.
Ich wende diese Fakten ein, doch ich weiß, dass Sie diese Worte höchstwahrscheinlich nicht erreichen werden, nicht erreichen können. Ich weiß das, weil sie auch mich meistens nicht erreichen. Denn die Verluste, die sich hinter diesen bekannten Fakten verbergen, gehen mit derart großen Ängsten einher, dass es uns unmöglich ist, sie wirklich zu begreifen.
Der norwegische Klimaforscher Per Espen Stoknes hat schon vor einigen Jahren die psychologischen Hürden beschrieben, die uns daran hindern, die Verluste des Klimawandels zu akzeptieren. Er machte fünf grundlegende Abwehrmechanismen aus, die dafür sorgen, dass wir alles, was damit zu tun hat, blockieren und bewusst oder unbewusst von uns fernhalten. Wir distanzieren uns vom Klimawandel, indem wir ihn in die Zukunft oder in ferne Länder projizieren. Auf die anfängliche Angst, mit der wir auf die Untergangsszenarien reagieren, folgt eine selbstverständliche Verdrängung, die uns für die täglichen Katastrophennachrichten desensibilisiert, uns ihrer müde werden lässt. Mit einer überraschend selbstverständlichen kognitiven Dissonanz rechtfertigen wir unsere eigenen klimaschädlichen Tätigkeiten. Intuitiv verleugnen wir die Fakten des Klimawandels, um uns vor Angst- und Schuldgefühlen zu schützen. Und diese Verleugnung wird sogar zum Teil einer politischen Identität. Große Teile der konservativen, neoliberalen und rechtsextremen Politik in Europa und Amerika haben sie zum Programm gemacht – für viele Menschen ein verführerisches Angebot, das ungeheure Erleichterung verspricht. Wir alle sind von diesen Mechanismen betroffen, egal, welchem politischen Lager wir angehören. Sie werden uns immer daran hindern, die Verluste, die mit dem Klimawandel einhergehen, zu akzeptieren, zu betrauern und zu verarbeiten.
Aber vielleicht gibt es etwas, worauf wir uns auch inmitten unserer mal stärker, mal weniger stark ausgeprägten psychischen Verdrängungsleistungen einigen können. Vielleicht gibt es einen Verlust, den wir uns eingestehen können, auch wenn uns das schwerfällt. Denn die meisten von uns haben heute das Gefühl, dass wir in unsicheren Zeiten leben. Den langen selbstverständlichen Glauben früherer Generationen, dass eine schönere Zukunft vor uns liegt, können wir nicht mehr teilen. Und schon gar nicht den, dass die Generation unserer Kinder ein besseres Leben haben wird als wir. Was wir alle verloren haben, ist die Gewissheit einer besseren Zukunft. Und bei genauerer Betrachtung ist schon das ein gigantischer, ein kaum zu bewältigender Verlust. Ein Verlust, den wir ernst nehmen müssen.
Der Verlust von Zukunftsvorstellungen lässt sich vor allem als ein „uneindeutiger Verlust“beschreiben. Dieses Konzept geht auf die Psychologin Pauline Boss zurück und benennt einen Verlust, bei dem unklar bleibt, was genau man verloren hat. Einige der bekanntesten und am besten erforschten Beispiele sind die Trauer um Menschen mit Demenz, deren Persönlichkeit immer mehr verschwindet, oder die Trauer um Vermisste, von denen man annehmen muss, dass sie tot sind. Uneindeutige Verluste zeichnen sich durch einen Mangel an Informationen, durch ein Paradox von Anwesenheit und Abwesenheit, ein Sowohl-als-auch aus, durch eine Ambivalenz, die dafür sorgt, dass der Trauerprozess ins Stocken gerät oder gänzlich ausbleibt. Wege zu finden, mit der neuen Situation zurechtzukommen, grundlegende Entscheidungen für ein neues Leben zu treffen, weiterzumachen und neu anzufangen – all das wird durch diese Ambivalenz erschwert. Pauline Boss zufolge geht mit uneindeutigen Verlusten eine eigene Form der Traumatisierung einher.
Die Apokalypse bleibt vermutlich aus
Immer wenn ich in den vergangenen Monaten und Jahren in Venedig war – meine Trauer mal größer, mal kleiner, mal weniger akut, mal mehr –, ging mir die Idee der „Subapokalypse“nicht aus dem Kopf, die der Autor David Wallace-Wells ins Spiel gebracht hat. Noch vor wenigen Jahren, schreibt er, hätten die Prognosen für die Entwicklung des Klimas so katastrophal ausgesehen, dass die meisten Forschenden davon ausgingen, die Welt würde sich ohne einschneidende Maßnahmen um vier bis fünf Grad erwärmen. Was Nahrungskrisen, Fluchtbewegungen, den Zusammenbruch aller wichtigen Ökosysteme und die Unbewohnbarkeit großer Teile der Erde zur Folge hätte. Inzwischen habe sich die Welt um 1,2 Grad erwärmt und die Prognosen für die Erderwärmung im Laufe dieses Jahrhunderts lägen zwischen zwei und drei Grad, immer noch ein Anstieg, der gravierende Konsequenzen hätte, aber
Wir erleben das mittlerweile sechste Massensterben in der Geschichte unseres Planeten, dieses Mal menschengemacht.
wahrscheinlich nicht den Kollaps unserer Zivilisation nach sich zöge. Der Wandel dieser Prognosen sei das Ergebnis globaler politischer Maßnahmen, schreibt er, des Ausbaus und der gestiegenen Wirtschaftlichkeit erneuerbarer Energien. Inzwischen werde immer klarer, was tatsächlich auf uns zukomme: eine Welt voller Extremwetterlagen und Krisen in allen möglichen Bereichen des Lebens, die jene gern beschworene Normalität schon lange hinter sich gelassen hat, aber dennoch relativ weit entfernt von apokalyptischen Zuständen ist. Eine Art Subapokalypse eben, wie ich sie in der Lagunenstadt und den Menschen, die in ihr leben, geradezu verkörpert sah.
Wir können kein privates Leben führen, das unabhängig vom gesellschaftlichen stattfindet. Unsere persönlichen Erfahrungen sind darin eingebettet, werden davon geformt. Wir möchten gern glauben, dass unser inneres Leben nichts mit den gesellschaftlichen Umständen zu tun hat, doch das ist nicht der Fall. Die Möglichkeit, ein gutes Leben zu führen, ohne sich Gedanken über das große Ganze zu machen, gibt es nicht. Es ist so verständlich, sich vor bestimmten Themen zu verstecken und mit einer partiellen Blindheit durchs Leben zu gehen. Manchmal müssen wir das, um durch den Alltag zu kommen. Doch irgendwann holen uns diese Themen immer ein. Irgendwann ist der Schmerz ihrer Verdrängung größer als der Schmerz, ihnen ins Auge zu sehen. Irgendwann muss man die Scheuklappen ablegen.
Pauline Boss, die unseren Umgang mit uneindeutigen Verlusten viele Jahre lang erforscht hat, stellte immer wieder fest, dass Menschen überraschend widerstandsfähig sein können. Eine der zentralen Botschaften ihrer Arbeit ist, dass es uns gelingen kann, mit der Ambivalenz, die unser Dasein bestimmt, zu leben. Manchmal, so Boss, lassen sich schlicht keine Lösungen für unsere Probleme finden, weil es diese Lösungen nicht gibt. Manchmal lasse sich Uneindeutigkeit nicht bearbeiten, wegdenken oder wegtherapieren. Manchmal blieben drängende Fragen unbeantwortet, weil sie keine Antwort haben. Unsere Aufgabe bestehe dann darin, die Uneindeutigkeit zu akzeptieren und in dieser Akzeptanz nach neuen Möglichkeiten für uns zu suchen. Auch wenn uneindeutige Verluste traumatisch sein können, seien wir in der Lage, unsere Leben zufriedenstellend zu gestalten. Das hatte für Boss nichts mit Stillhalten, Stoizismus oder Anpassung zu tun, sondern mit der Erarbeitung einer gewissen inneren Freiheit. Wir gehen mit der Annahme durch das Leben, dass man über alles „hinwegkommen“müsse. Häufig geht genau das nicht, häufig müssen wir, um unseren Weg zu finden, genau von dieser Annahme Abschied nehmen.
Ein Buch, das ich bei einem meiner Aufenthalte in Venedig las, war „Radikale Hoffnung“von Jonathan Lear. Der amerikanische Philosoph setzt sich darin unter anderem mit der „ontologischen Verletzlichkeit“auseinander, die sich im Zusammenbruch einer bekannten Welt, im Ende einer weitverbreiteten Lebensweise zeigt. Eine Verletzlichkeit, derer wir uns heute wieder bewusst sind, die wir aber nur schlecht benennen können, obwohl viele unserer Eltern und Großeltern sie schon am eigenen Leib erfahren haben. Für die meisten von uns ist es schlicht nicht vorstellbar, was es bedeutet, wenn die im Laufe eines Lebens gewonnene praktische Vernunft auf einmal nicht mehr greift. Wenn viele Verhaltensweisen, die auf das abzielen, was angemessen ist, plötzlich ins Leere laufen. Lear untersucht, was mit Menschen passiert, die ihr Leben nach zunächst unbekannten Regeln führen müssen und vom Gefühl erfasst werden, ihre Kinder an eine Welt zu verlieren, die sie nicht kennen. Die mit einer Trauer konfrontiert werden, die man nicht in Worte fassen kann und für die es auch keinen Raum gibt. Der Philosoph möchte herausfinden, wie es ist, nicht einmal ahnen zu können, was die Zukunft bereithält. Lears Buch macht verstehbar, welch unglaubliche psychische Kraft es erfordert, in solchen Momenten der Geschichte Hoffnung auf eine Zukunft zu schöpfen und zu versuchen, ein gutes Leben zu führen. Er macht begreifbar, dass, selbst wenn diese Zukunft eintritt, das Gefühl einer grundlegenden Fragilität bleiben wird.
Wenn Sie sich heute die Gemälde Canalettos aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts anschauen, werden Sie sehen, dass Venedig vor 300 Jahren genauso zerbröckelt, genauso baufällig und genauso überragend schön aussah wie heute. Kein Gebäude scheint sich sonderlich verändert zu haben. Denn die ganze Stadt wird eigentlich fortlaufend renoviert, mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der man die vielen Holzpfähle in den Kanälen und der Lagune alle 15 bis 20 Jahre erneuert. Venedig ist letztlich eine Stadt größter Zuversicht. Eine Stadt, in der die Aufenthalte für mich persönlich genau deswegen stärker als anderswo von Momenten der Schönheit, der Ehrfurcht und des Staunens, von Genuss und Dankbarkeit geprägt waren. Seit Jahrhunderten lebt sie in einer gewissen Leichtigkeit mit ihrem drohenden Untergang, mit zahllosen ungelösten Fragen und unsagbarer Unsicherheit.
Und womöglich zog es mich auch genau deswegen immer wieder dorthin: Um jene Zuversicht, um jene radikale Hoffnung, angesichts der vielen eindeutigen und uneindeutigen Verluste unserer Leben, in mich aufzunehmen, um sie zu lernen. Keine Zuversicht im Sinne eines moralischen Imperativs, im Sinne eines „Wir müssen zuversichtlich sein!“. Auch keine blinde Zuversicht, die davon ausgeht, dass sich irgendwie schon alles zum Besten wenden wird. Sondern eine Zuversicht, wie ich sie im Laufe der Zeit auch in meiner privaten Trauer, der um meinen Vater, erlebte.
Radikale Hoffnung entwickeln
Vielleicht, dachte ich, werden wir auch die kollektiven Verluste so verarbeiten, wie wir es irgendwann mit unseren privaten Verlusten tun. Schließlich ist es unvorstellbar, dass ein Mensch, den wir lieben, stirbt. Und es bleibt unvorstellbar, dass dieser Mensch tot ist. Auch Monate, manchmal Jahre danach bleibt dieser Umstand schlicht unvorstellbar. Doch irgendwann gelingt es uns trotz dieser Unvorstellbarkeit wieder, in ein Leben zu finden. Irgendwann gelingt es uns, auch mit einer Situation umzugehen, von der man niemals glaubte, mit ihr umgehen zu können. Radikale Hoffnung heißt, genau darauf zu vertrauen.
Was für ein Leben kann man an diesem vermeintlichen Ende der Welt führen, an dem wir zu stehen glauben? Was müssen wir, was können wir betrauern? Das sind große Fragen. Doch um diese Zuversicht zu erlangen, die ich meine, müssen wir vielleicht ganz klein beginnen, bei unserem kleinsten gemeinsamen Nenner ansetzen. Womöglich müssen wir erst einmal lernen, darüber zu sprechen, was die derzeitige Lage der Welt mit uns macht. Ehrlich über unsere Gefühle der Angst und der Verdrängung zu sein, vor uns selbst und vor anderen. Wir müssen miteinander reden. Gesprächsräume öffnen und uns gegenseitig Wege aufzeigen, wie wir uns jenen Fragen, jener Unvorstellbarkeit unserer eindeutigen und uneindeutigen Verluste stellen können. Das klingt nach wenig, ist aber so viel.
Auf den Gemälden Canalettos sieht Venedig genauso zerbröckelt und überragend schön aus wie heute.