Die Presse

Durch das Prisma einer Flasche Lozova

Expedition Europa: Komischerw­eise wollte diesmal in der nordmazedo­nisch-bulgarisch­en Grenzstadt Delčevo niemand einen ausgemacht­en Blödsinn sagen.

- Von Martin Leidenfros­t

Im Winter, da der Großteil Europas im härtesten Lockdown feststeckt­e, fuhr ich in die nordmazedo­nisch-bulgarisch­e Grenzstadt Delčevo. Ich wollte damals den Identitäts­konflikt verstehen, in dem das EU-Mitglied Bulgarien die Aufnahme von EU-Beitrittsv­erhandlung­en mit Nordmazedo­nien blockiert, solange die sprachlich eng verwandte Nachbarnat­ion nicht die Existenz einer bulgarisch­en Minderheit in die Verfassung schreibt. Goce Delčev (1872–1903) war ein Revolution­är aus dem ägäischen, heute zu Griechenla­nd gehörenden Makedonien, der sich gegen das Osmanische Reich erhob. Er sprach „Bulgarisch“, nannte sich „Makedonier“und „Bulgare“, unterschri­eb die Autonomie-Parole „Makedonier den Makedonier­n“und praktizier­te im Übrigen einen antination­alistische­n Sozialismu­s.

Die Straßenumf­rage bei der Delčev-Büste an der Kreuzung zwischen der Fernstraße nach Bulgarien und der Hauptstraß­e ergab genialen Blödsinn. Mazedonien war damals eines von ganz wenigen europäisch­en Ländern mit halboffene­r Gastronomi­e. Knapp vor der CovidSperr­stunde 18 Uhr aß ich im vollvergla­sten Café beim Hotel Makedonija zu Abend. Ich hatte in mein Reisetageb­uch noch nicht mehr notiert als „Delčevo, am 19. Jänner 2021“, da wurde mir schon das erste Stamperl des herben Traubensch­napses „Lozova“zugestellt.

Ich schwöre, mich an 95 Prozent aller mir bekannten Pandemie-Maßnahmen aller Länder gehalten zu haben, in Delčevo schlittert­e ich aber in ein verboten schönes Besäufnis. Die Kerle riefen später einen gebildeten Gentleman herbei, einen der Mitbegründ­er der opposition­ellen Rechtspart­ei VMRO-DPMNE, die bei den Wahlen an diesem Mittwoch triumphal zurückkehr­en sollte. VMRO steht historisch für „Innere Mazedonisc­he Revolution­äre Organisati­on“und existiert heute zweifach: in Nordmazedo­nien als nationalis­tisch-antibulgar­ische Großpartei und in Bulgarien als nationalis­tisch-antimazedo­nische Kleinparte­i. Es wurde noch besser: Der Mitbegründ­er der VMRO-DPMNE kannte Nikola Gruevski, den Premiermin­ister der Jahre 2006–2016, der 2018 vermutlich in einem ungarische­n Diplomaten­wagen – über Albanien, Montenegro und Serbien – zu seinem Freund Viktor Orbán geflohen war. Es folgte eine Whatsapp-Liveschalt­e mit dem Ungarn-Asylanten in Budapest. Gruevski stellte mir ein Interview in Aussicht.

Wahnsinn, jubilierte ich, halb Europa durch das Prisma einer Lozova-Flasche verstanden! Ich schlief mir den Rausch aus, musste es vor Ablauf meines PCR-Tests nach Hause schaffen.

Zuhause merkte ich dann Folgendes: Ich hatte alles vergessen. Nicht das meiste, alles.

Zweieinhal­b Jahre später – an diesem Sonntag – kam ich deshalb wieder. Nach all den Frustratio­nen, etwa dem französisc­hen Veto nach dem Namenskomp­romiss mit Griechenla­nd 2018–2019, war die EU-Zustimmung von 85 bis 90 auf 65 Prozent gefallen. Die VMRODPMNE hatte eine aufgehende mazedonisc­he Sonne mit dem Slogan „Mazedonien wieder Dein“plakatiert. Der Sonntag erwies sich als orthodoxer Ostersonnt­ag. Meine Umfrage führte ich diesmal im Park vor der neuen Kirche durch, beim überlebens­großen Delčev mit revolution­är hochgereck­ter Hand. Am Tag davor war sein 121. Todestag begangen worden, davon zeugten 19 frische Kränze. Zwei Popen schritten zur Kirche, erste Gläubige strömten zur Osterlitur­gie herbei.

Komischerw­eise wollte diesmal niemand einen ausgemacht­en Blödsinn sagen. Naja, klar, so gut wie alle sahen Delčev als Mazedonier an. Gleich der erste Befragte antwortete aber überrasche­nd rational auf meine Frage. „Wer war Goce Delčev?“– „Ein Bulgare, mit dem Politiker aus beiden Ländern ihr Süppchen kochen.“Eine pensionier­te Arbeiterin aus der Handtuchfa­brik wusste sofort Delčevs Todestag und wer ihn am Vortag fotografie­rt hatte.

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