Schau mir nicht in die Augen, Kleiner!
Sonnenbrillen gehören ins Reich der Ahnungen und Blicke, der Verführung und Abweisung. Sie erzählen am helllichten Tag von der Nacht. Hinter ihnen könnte sich alles abspielen, aber sie sagen auch selbst etwas aus.
Dieser Text muss mit einem Geständnis beginnen, es ist mir etwas peinlich: Ich schreibe und trage dabei eine Sonnenbrille. Nicht immer, aber mit zunehmender Häufigkeit. Jetzt zum Beispiel. Ein türkisfarbenes Gestell mit zwei violetten Gläsern auf meiner Nase taucht den Bildschirm in eine angenehme Entrücktheit. Ich bin mir bewusst, dass das abgehoben wirkt. So ist das eben. Nein, ich halte meine Buchstaben nicht für die Sonne, habe aber meine Gründe. Dazu später.
Erst mal möchte ich noch loswerden, das kommt jetzt vermutlich überraschend, dass ich Sonnenbrillen nicht ausstehen kann. Insbesondere vor den Augen anderer Menschen. Egal wo, aber vor allem dann, wenn sie ihren Kopf in meine Richtung drehen. Und noch schlimmer, wenn die Sonnenbrillen auf deren Kopf sitzen. Bedingungslos möchte ich mich hier Peter Handkes in einem Interview mit Katja Gasser vorgetragener Beschwerde anschließen: „Eines meiner größten Anliegen war zum Beispiel, dass die Männer, die die Brille auf den Kopf schieben, dass die das nicht mehr tun, aber heutzutage hat sich das verzehnfacht. Alle meine sozialen, ästhetischen Anliegen sind gescheitert.“
Das Scheitern muss nicht dauerhaft sein, auch wenn ich gar nicht weiß, ob Handke nun Lese- oder Sonnenbrillen oder Brillen im Allgemeinen meinte. Es spielt keine Rolle. Die ästhetischen Verfehlungen sind weitreichend, sie zu bekämpfen ist eine bürgerliche Pflicht, der ich hier nachkommen möchte. Das ist allerdings nicht einfach, denn Sonnenbrillen verfälschen per definitionem den Blick, lassen alles in einem trügerischen Licht erscheinen.
Eine der ersten Sonnenbrillen, die sich in mein persönliches kulturelles Gedächtnis gegraben haben, war das lippenrot-herzförmige Exemplar, das die Schauspielerin Sue Lyon in Stanley Kubricks Verfilmung von „Lolita“vor ihren über das Gestell lugenden Augen trug. Diese Sonnenbrille wurde zu ihrer eigenen Marke – wer möchte, dass die Tochter von älteren Herren angebaggert wird, kauft ihr LolitaSonnenbrillen! Ich scherze selbstverständlich, das geht leicht mit einer Sonnenbrille. Bei Sonnenbrillen geht das moralische Gewissen flöten, das ist so, die Brillen gibt es, das habe ich nicht erfunden. In Nabokovs Romanvorlage werden Sonnenbrillen nicht einmal erwähnt. Bei Kubrick werden sie zu einer Art Symbol der verdorbenen Zuwendung, des zugleich Kindlichen und Verbotenen.
Diktatoren zeigen sich mit Sonnenbrillen
Sofort verstand ich, dass Sonnenbrillen etwas mit dem zu tun haben, was nicht in Worten gesagt werden kann. Sie gehören ins Reich der Ahnungen und Blicke, der Verführung und Abweisung. Sonnenbrillen sind uneindeutig, ambivalent. Sie erzählen am helllichten Tag von der Nacht. Hinter ihnen könnte sich alles abspielen, und doch sagen sie auch selbst etwas aus. Wer eine Sonnenbrille trägt, möchte nicht unbedingt verstanden werden oder Vertrauen erwecken. Ein Geheimnis wird gewahrt. Vielleicht sind deshalb die einzigen Politiker, die sich mit Sonnenbrillen zeigen, Diktatoren. Und Bono von U2, aber das ist ein anderes Thema.
Auch meine nächsten popkulturellen Begegnungen mit Sonnenbrillen waren filmischer Natur. Die „Blues Brothers“selbstverständlich und der Film „They Live“von John Carpenter, in dem ein Blick durch eine Sonnenbrille die von Aliens herbeigeführte Konsumindustrie bloßstellt. Statt der Werbesprüche auf Plakaten sieht man durch die Sonnenbrille, was dort eigentlich gesagt wird. Die Message des Kapitalismus wird entlarvt als eine des bürgerlichen Gehorsams. Wieder also steht die Sonnenbrille in einem guten Licht, da lässt sich das Kino nicht lumpen.
Im Gegensatz zu anderer Mode können Sonnenbrillen wirklich von allen getragen werden, in dem Sinn sind sie egalitär. Zumindest geben sie den Anschein, denn wer genau schaut, erkennt natürlich, dass das so nicht stimmt. Die meisten Sonnenbrillen sitzen schief oder verkleinern das Gesicht, verformen eigentlich makellos gerundete Wangen, wirken einschüchternd, wo sie Entspannung ausdrücken sollen, und so weiter.
Ich bin wahrlich kein Mode-Experte, aber was sich da an Sommerwochenenden in Gastgärten und Seebädern abspielt, ist bisweilen ein zu billigem Plastik verarbeitetes Grauen. Seltsam auch, wie die Sonnenbrille sich stets anders anfühlt, als sie aussieht. Das möchte ich so erklären: Wer eine Sonnenbrille trägt, sieht sich sofort als Bild. Sonnenbrillen verleihen Selbstwertgefühl. Wer sie trägt, darf seinen
Körper vergessen, wird vor dem eigenen Auge zu einer fantasierten Ikone. Madonna, Beyoncé, Billie Eilish. Egal, wer. Tausende Bilder von Stars mit Sonnenbrillen. Helden einer augenkontaktlosen Gesellschaft. Sonnenbrillen versprechen, dass wir wie sie sein können. Persol-Brillen für die in den Geldbeutel gehende Zeitlosigkeit, Alexander McQueen und Gucci für eine dunklere Welt.
Eine Sonnenbrille lässt einen kurz glauben, wer anderes zu sein. Diese verdunkelten Gläser sind zugleich Statussymbol wie Versteck. Das aus der Mode gefallene Wort „cool“wäre nicht denkbar ohne die nie aus der Mode gefallenen Sonnenbrillen. Das Bewusstsein verändert sich, man verliert sich vor den Augen der anderen. Die Sonnenbrille verleiht eine Identität, die nichts mit der eigenen zu tun haben muss. Sie macht uns zu unserem Wunschbild, und wir merken gar nicht, wie lächerlich wir manchmal aussehen mit ihnen im Gesicht.
Im Gegensatz zu ähnlich wirkenden, womöglich gefährlicheren Stimulanzen verliert man nie die Kontrolle, denn Sonnenbrillen drücken auch Macht und Distanz aus. Man hält sich selbst vor den anderen im Ungewissen, schließlich könnte man bei entsprechender Tönung auch mit geschlossenen Augen, also schlafend, in einem Vortrag oder zu anderen Anlässen unter Menschen sitzen. Trägt man eine Sonnenbrille, merkt niemand, wo man wirklich ist. Ein Augenrollen wird zu einem Lächeln, ein verliebter Blick zu eisiger Distanz.
Das ist übrigens auch der Grund, weshalb ich hier mit einer Sonnenbrille sitze und über Sonnenbrillen schreibe: Ich fühle mich sicher. Ich fühle mich, als müsste ich nicht ich selbst sein, was mir ziemlich gelegen kommt, wenn ich schreibe. Wenn ich hier also in der ersten Person schreibe, dann immer nur als erste Person hinter einer Sonnenbrille. Die Worte schützen mich wie das Glas die Augen. Aber das ist heuchlerisch. Mit einer Sonnenbrille Sonnenbrillen angreifen. Das Schlimme ist, hinter einer Sonnenbrille fallen die Skrupel. Rockstar-Attitüde und so weiter. Ich setze also einfach fort.
Seehundknochen gegen Schneeblindheit
Wie der nächstbeste Mondsüchtige bin ich ein großer Freund von Corey Hart. Aber so anziehend dessen Song von den bei Nacht getragenen Sonnenbrillen auch in meinen Ohren saust, so unerträglich ist es mir, wenn Menschen in geschlossenen Räumen oder nach der Dämmerung ihre Sonnenbrillen nicht abnehmen können. Spätestens dann zeigt sich, dass dieses ursprünglich zum Schutz vor Sonnenlicht erfundene Utensil längst über seinen eigenen Sinn hinausgewachsen ist.
Galten die ersten Schlitzbrillen der Inuit aus Seehundknochen noch dem Schutz vor Schneeblindheit, entdeckten die römischen Kaiser schon bald, dass sich ihre mörderischen, in Arenen ausgetragenen Volksspiele besser durch Smaragde betrachten ließen, und irgendwann kamen dann die US-amerikanischen Aviatoren, die den Ray-Ban-Look endgültig ins Reich der Ästhetik verfrachteten, auch wenn diese Brillen eigentlich eingeführt wurden, damit die Piloten nicht erblindeten, da oben in den Wolken.
Das bringt mich zur irrelevanten Frage: Wäre Ikarus abgestürzt, hätte er eine Sonnenbrille getragen? Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Sonnenbrillen auch hierzulande zum Ausdruck eines Neuanfangs, in ihnen spiegelte sich das Selbstbewusstsein der USA, der Neuanfang für Europa. Da sind Sonnenbrillen wie Jeans. Popstars und Hollywood-Ikonen schienen spätestens ab den 1960er-Jahren mit ihren Brillen zu verwachsen. Angeblich um sich in der Öffentlichkeit zu verstecken. Dass sie dabei zugleich zu herumlaufenden Werbeplakaten wurden, hinterfragte niemand.
Bei Sonnenbrillen stört überhaupt wenig, scheint mir. Karl Lagerfeld übrigens, der sich sonst an allen modischen Katastrophen erzürnte, den man sich aber kaum ohne Sonnenbrille vorstellen kann, hat seine angeblich aus Selbstschutz nie abgelegt. Eines Tages wurde er in einem Nachtclub von einem verärgerten ehemaligen Liebhaber seiner Begleitung mit einem Glas beworfen. Zufällig trug er eine Sonnenbrille, weshalb er sie nie wieder abnahm. So ist das, alles ganz normal.
Selbstredend gibt es sie noch, die nützliche Brille, das soll gar nicht abgestritten werden. Es gibt Augenkrankheiten, Schutz beim Sport, beim Autofahren und so weiter. Aber was ist mit den zigtausenden Brillen, die auf dem Meeresgrund liegen, weil die Menschen ins Wasser springen und vergessen, dass sie eine Brille auf ihrem Kopf tragen? Was ist mit Männern, die Sonnenbrillen tragen, deren Gestelle blinken können? Was ist mit reflektierenden Gläsern, in denen man sich selbst sieht, wenn man mit jemandem spricht? Was ist mit Menschen, die sich in der Spiegelung ihrer Brillen fotografieren? Gehören diese Dinge nicht verboten? Gibt es keinen gesetzlichen Schutz vor ästhetischen Verbrechen?
Und ja, was ist mit dieser unerträglichen, von Handke bemerkten Geste, so möchte ich das mal nennen, die Brille auf dem Kopf zu tragen? Mal abgesehen davon, dass das Brillengestell ausleiert, gibt es wohl weniges, was mich so aufregt.
Farben nicht aus der Welt filtern
Aber ich bleibe ganz cool, trage ja eine Sonnenbrille. Kunsthistoriker Erwin Panofsky übrigens ist stets mit Sonnenbrille ins Museum gegangen. Damit ihn die Farben nicht irritieren, begründete er. Das gefällt mir vor allem deshalb, weil es so herrlich unsinnig ist. Selbstredend kann man die Farben nicht aus der Welt filtern, man würde sonst gar nichts mehr sehen. Aber auch in „They Live“wird das Bild durch die Sonnenbrille schwarz und weiß. Der Wunsch nach einer gefilterten Wirklichkeit wird sicher nicht kleiner, wenn die uns mit visuellen Eindrücken überschwemmt.
Im Angesicht der uns umgebenden Bildschirme scheint eine Sonnenbrille ohnehin eine gute Entscheidung. Sie hält schließlich die Welt auf Distanz, hilft dabei, nicht durchzudrehen. Da ist sie wie ein Kopfhörer. Gleichzeitig aber ist sie letztlich nur ein weiterer Screen, eine weitere Spiegelung, eine weitere Schranke, die wir zwischen uns und die Welt schalten. Ich frage mich: wie viele einsame Augen hinter dunklen Gläsern? Wie viel soziale Kälte im Gesicht? Wie viele versteckte Gefühle? Dann aber, mit einem Mal, schaut uns doch wer in die Augen, und wir erschrecken, weil das so viel schöner ist als jedes Glas.
Ich kann Sonnenbrillen nicht ausstehen. Besonders vor den Augen anderer. Noch schlimmer, wenn sie auf deren Kopf sitzen.