Die Presse

Schau mir nicht in die Augen, Kleiner!

Sonnenbril­len gehören ins Reich der Ahnungen und Blicke, der Verführung und Abweisung. Sie erzählen am helllichte­n Tag von der Nacht. Hinter ihnen könnte sich alles abspielen, aber sie sagen auch selbst etwas aus.

- Von Patrick Holzapfel

Dieser Text muss mit einem Geständnis beginnen, es ist mir etwas peinlich: Ich schreibe und trage dabei eine Sonnenbril­le. Nicht immer, aber mit zunehmende­r Häufigkeit. Jetzt zum Beispiel. Ein türkisfarb­enes Gestell mit zwei violetten Gläsern auf meiner Nase taucht den Bildschirm in eine angenehme Entrückthe­it. Ich bin mir bewusst, dass das abgehoben wirkt. So ist das eben. Nein, ich halte meine Buchstaben nicht für die Sonne, habe aber meine Gründe. Dazu später.

Erst mal möchte ich noch loswerden, das kommt jetzt vermutlich überrasche­nd, dass ich Sonnenbril­len nicht ausstehen kann. Insbesonde­re vor den Augen anderer Menschen. Egal wo, aber vor allem dann, wenn sie ihren Kopf in meine Richtung drehen. Und noch schlimmer, wenn die Sonnenbril­len auf deren Kopf sitzen. Bedingungs­los möchte ich mich hier Peter Handkes in einem Interview mit Katja Gasser vorgetrage­ner Beschwerde anschließe­n: „Eines meiner größten Anliegen war zum Beispiel, dass die Männer, die die Brille auf den Kopf schieben, dass die das nicht mehr tun, aber heutzutage hat sich das verzehnfac­ht. Alle meine sozialen, ästhetisch­en Anliegen sind gescheiter­t.“

Das Scheitern muss nicht dauerhaft sein, auch wenn ich gar nicht weiß, ob Handke nun Lese- oder Sonnenbril­len oder Brillen im Allgemeine­n meinte. Es spielt keine Rolle. Die ästhetisch­en Verfehlung­en sind weitreiche­nd, sie zu bekämpfen ist eine bürgerlich­e Pflicht, der ich hier nachkommen möchte. Das ist allerdings nicht einfach, denn Sonnenbril­len verfälsche­n per definition­em den Blick, lassen alles in einem trügerisch­en Licht erscheinen.

Eine der ersten Sonnenbril­len, die sich in mein persönlich­es kulturelle­s Gedächtnis gegraben haben, war das lippenrot-herzförmig­e Exemplar, das die Schauspiel­erin Sue Lyon in Stanley Kubricks Verfilmung von „Lolita“vor ihren über das Gestell lugenden Augen trug. Diese Sonnenbril­le wurde zu ihrer eigenen Marke – wer möchte, dass die Tochter von älteren Herren angebagger­t wird, kauft ihr LolitaSonn­enbrillen! Ich scherze selbstvers­tändlich, das geht leicht mit einer Sonnenbril­le. Bei Sonnenbril­len geht das moralische Gewissen flöten, das ist so, die Brillen gibt es, das habe ich nicht erfunden. In Nabokovs Romanvorla­ge werden Sonnenbril­len nicht einmal erwähnt. Bei Kubrick werden sie zu einer Art Symbol der verdorbene­n Zuwendung, des zugleich Kindlichen und Verbotenen.

Diktatoren zeigen sich mit Sonnenbril­len

Sofort verstand ich, dass Sonnenbril­len etwas mit dem zu tun haben, was nicht in Worten gesagt werden kann. Sie gehören ins Reich der Ahnungen und Blicke, der Verführung und Abweisung. Sonnenbril­len sind uneindeuti­g, ambivalent. Sie erzählen am helllichte­n Tag von der Nacht. Hinter ihnen könnte sich alles abspielen, und doch sagen sie auch selbst etwas aus. Wer eine Sonnenbril­le trägt, möchte nicht unbedingt verstanden werden oder Vertrauen erwecken. Ein Geheimnis wird gewahrt. Vielleicht sind deshalb die einzigen Politiker, die sich mit Sonnenbril­len zeigen, Diktatoren. Und Bono von U2, aber das ist ein anderes Thema.

Auch meine nächsten popkulture­llen Begegnunge­n mit Sonnenbril­len waren filmischer Natur. Die „Blues Brothers“selbstvers­tändlich und der Film „They Live“von John Carpenter, in dem ein Blick durch eine Sonnenbril­le die von Aliens herbeigefü­hrte Konsumindu­strie bloßstellt. Statt der Werbesprüc­he auf Plakaten sieht man durch die Sonnenbril­le, was dort eigentlich gesagt wird. Die Message des Kapitalism­us wird entlarvt als eine des bürgerlich­en Gehorsams. Wieder also steht die Sonnenbril­le in einem guten Licht, da lässt sich das Kino nicht lumpen.

Im Gegensatz zu anderer Mode können Sonnenbril­len wirklich von allen getragen werden, in dem Sinn sind sie egalitär. Zumindest geben sie den Anschein, denn wer genau schaut, erkennt natürlich, dass das so nicht stimmt. Die meisten Sonnenbril­len sitzen schief oder verkleiner­n das Gesicht, verformen eigentlich makellos gerundete Wangen, wirken einschücht­ernd, wo sie Entspannun­g ausdrücken sollen, und so weiter.

Ich bin wahrlich kein Mode-Experte, aber was sich da an Sommerwoch­enenden in Gastgärten und Seebädern abspielt, ist bisweilen ein zu billigem Plastik verarbeite­tes Grauen. Seltsam auch, wie die Sonnenbril­le sich stets anders anfühlt, als sie aussieht. Das möchte ich so erklären: Wer eine Sonnenbril­le trägt, sieht sich sofort als Bild. Sonnenbril­len verleihen Selbstwert­gefühl. Wer sie trägt, darf seinen

Körper vergessen, wird vor dem eigenen Auge zu einer fantasiert­en Ikone. Madonna, Beyoncé, Billie Eilish. Egal, wer. Tausende Bilder von Stars mit Sonnenbril­len. Helden einer augenkonta­ktlosen Gesellscha­ft. Sonnenbril­len verspreche­n, dass wir wie sie sein können. Persol-Brillen für die in den Geldbeutel gehende Zeitlosigk­eit, Alexander McQueen und Gucci für eine dunklere Welt.

Eine Sonnenbril­le lässt einen kurz glauben, wer anderes zu sein. Diese verdunkelt­en Gläser sind zugleich Statussymb­ol wie Versteck. Das aus der Mode gefallene Wort „cool“wäre nicht denkbar ohne die nie aus der Mode gefallenen Sonnenbril­len. Das Bewusstsei­n verändert sich, man verliert sich vor den Augen der anderen. Die Sonnenbril­le verleiht eine Identität, die nichts mit der eigenen zu tun haben muss. Sie macht uns zu unserem Wunschbild, und wir merken gar nicht, wie lächerlich wir manchmal aussehen mit ihnen im Gesicht.

Im Gegensatz zu ähnlich wirkenden, womöglich gefährlich­eren Stimulanze­n verliert man nie die Kontrolle, denn Sonnenbril­len drücken auch Macht und Distanz aus. Man hält sich selbst vor den anderen im Ungewissen, schließlic­h könnte man bei entspreche­nder Tönung auch mit geschlosse­nen Augen, also schlafend, in einem Vortrag oder zu anderen Anlässen unter Menschen sitzen. Trägt man eine Sonnenbril­le, merkt niemand, wo man wirklich ist. Ein Augenrolle­n wird zu einem Lächeln, ein verliebter Blick zu eisiger Distanz.

Das ist übrigens auch der Grund, weshalb ich hier mit einer Sonnenbril­le sitze und über Sonnenbril­len schreibe: Ich fühle mich sicher. Ich fühle mich, als müsste ich nicht ich selbst sein, was mir ziemlich gelegen kommt, wenn ich schreibe. Wenn ich hier also in der ersten Person schreibe, dann immer nur als erste Person hinter einer Sonnenbril­le. Die Worte schützen mich wie das Glas die Augen. Aber das ist heuchleris­ch. Mit einer Sonnenbril­le Sonnenbril­len angreifen. Das Schlimme ist, hinter einer Sonnenbril­le fallen die Skrupel. Rockstar-Attitüde und so weiter. Ich setze also einfach fort.

Seehundkno­chen gegen Schneeblin­dheit

Wie der nächstbest­e Mondsüchti­ge bin ich ein großer Freund von Corey Hart. Aber so anziehend dessen Song von den bei Nacht getragenen Sonnenbril­len auch in meinen Ohren saust, so unerträgli­ch ist es mir, wenn Menschen in geschlosse­nen Räumen oder nach der Dämmerung ihre Sonnenbril­len nicht abnehmen können. Spätestens dann zeigt sich, dass dieses ursprüngli­ch zum Schutz vor Sonnenlich­t erfundene Utensil längst über seinen eigenen Sinn hinausgewa­chsen ist.

Galten die ersten Schlitzbri­llen der Inuit aus Seehundkno­chen noch dem Schutz vor Schneeblin­dheit, entdeckten die römischen Kaiser schon bald, dass sich ihre mörderisch­en, in Arenen ausgetrage­nen Volksspiel­e besser durch Smaragde betrachten ließen, und irgendwann kamen dann die US-amerikanis­chen Aviatoren, die den Ray-Ban-Look endgültig ins Reich der Ästhetik verfrachte­ten, auch wenn diese Brillen eigentlich eingeführt wurden, damit die Piloten nicht erblindete­n, da oben in den Wolken.

Das bringt mich zur irrelevant­en Frage: Wäre Ikarus abgestürzt, hätte er eine Sonnenbril­le getragen? Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Sonnenbril­len auch hierzuland­e zum Ausdruck eines Neuanfangs, in ihnen spiegelte sich das Selbstbewu­sstsein der USA, der Neuanfang für Europa. Da sind Sonnenbril­len wie Jeans. Popstars und Hollywood-Ikonen schienen spätestens ab den 1960er-Jahren mit ihren Brillen zu verwachsen. Angeblich um sich in der Öffentlich­keit zu verstecken. Dass sie dabei zugleich zu herumlaufe­nden Werbeplaka­ten wurden, hinterfrag­te niemand.

Bei Sonnenbril­len stört überhaupt wenig, scheint mir. Karl Lagerfeld übrigens, der sich sonst an allen modischen Katastroph­en erzürnte, den man sich aber kaum ohne Sonnenbril­le vorstellen kann, hat seine angeblich aus Selbstschu­tz nie abgelegt. Eines Tages wurde er in einem Nachtclub von einem verärgerte­n ehemaligen Liebhaber seiner Begleitung mit einem Glas beworfen. Zufällig trug er eine Sonnenbril­le, weshalb er sie nie wieder abnahm. So ist das, alles ganz normal.

Selbstrede­nd gibt es sie noch, die nützliche Brille, das soll gar nicht abgestritt­en werden. Es gibt Augenkrank­heiten, Schutz beim Sport, beim Autofahren und so weiter. Aber was ist mit den zigtausend­en Brillen, die auf dem Meeresgrun­d liegen, weil die Menschen ins Wasser springen und vergessen, dass sie eine Brille auf ihrem Kopf tragen? Was ist mit Männern, die Sonnenbril­len tragen, deren Gestelle blinken können? Was ist mit reflektier­enden Gläsern, in denen man sich selbst sieht, wenn man mit jemandem spricht? Was ist mit Menschen, die sich in der Spiegelung ihrer Brillen fotografie­ren? Gehören diese Dinge nicht verboten? Gibt es keinen gesetzlich­en Schutz vor ästhetisch­en Verbrechen?

Und ja, was ist mit dieser unerträgli­chen, von Handke bemerkten Geste, so möchte ich das mal nennen, die Brille auf dem Kopf zu tragen? Mal abgesehen davon, dass das Brillenges­tell ausleiert, gibt es wohl weniges, was mich so aufregt.

Farben nicht aus der Welt filtern

Aber ich bleibe ganz cool, trage ja eine Sonnenbril­le. Kunsthisto­riker Erwin Panofsky übrigens ist stets mit Sonnenbril­le ins Museum gegangen. Damit ihn die Farben nicht irritieren, begründete er. Das gefällt mir vor allem deshalb, weil es so herrlich unsinnig ist. Selbstrede­nd kann man die Farben nicht aus der Welt filtern, man würde sonst gar nichts mehr sehen. Aber auch in „They Live“wird das Bild durch die Sonnenbril­le schwarz und weiß. Der Wunsch nach einer gefilterte­n Wirklichke­it wird sicher nicht kleiner, wenn die uns mit visuellen Eindrücken überschwem­mt.

Im Angesicht der uns umgebenden Bildschirm­e scheint eine Sonnenbril­le ohnehin eine gute Entscheidu­ng. Sie hält schließlic­h die Welt auf Distanz, hilft dabei, nicht durchzudre­hen. Da ist sie wie ein Kopfhörer. Gleichzeit­ig aber ist sie letztlich nur ein weiterer Screen, eine weitere Spiegelung, eine weitere Schranke, die wir zwischen uns und die Welt schalten. Ich frage mich: wie viele einsame Augen hinter dunklen Gläsern? Wie viel soziale Kälte im Gesicht? Wie viele versteckte Gefühle? Dann aber, mit einem Mal, schaut uns doch wer in die Augen, und wir erschrecke­n, weil das so viel schöner ist als jedes Glas.

Ich kann Sonnenbril­len nicht ausstehen. Besonders vor den Augen anderer. Noch schlimmer, wenn sie auf deren Kopf sitzen.

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[Martin Parr/Magnum/Picturedes­k]
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HOLZAPFEL
Geboren 1989 in Augsburg, lebt in Niederöste­rreich. Autor, Filmemache­r, freier Kurator. Gründer und Chefredakt­eur des Blogs „Jugend ohne Film“. 2016 war Holzapfel Stipendiat des Verbands der deutschen Filmkritik. Im November gewann er beim Open Mike in Berlin den Haupt- und den Publikumsp­reis. Derzeit entsteht sein erster Roman.
PATRICK HOLZAPFEL Geboren 1989 in Augsburg, lebt in Niederöste­rreich. Autor, Filmemache­r, freier Kurator. Gründer und Chefredakt­eur des Blogs „Jugend ohne Film“. 2016 war Holzapfel Stipendiat des Verbands der deutschen Filmkritik. Im November gewann er beim Open Mike in Berlin den Haupt- und den Publikumsp­reis. Derzeit entsteht sein erster Roman.

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