Die Presse

Sein Dialekt klang schrecklic­h süß

- Von Lore Segal

Meine Wiener Gastgeber haben sich sehr bemüht. Es waren sicher die Kinder oder Enkelkinde­r von Nazi-Gegnern, aber am dritten Tag wollte ich nur noch weg und war froh, als ich wieder im Flugzeug nach New York saß, das mich damals aufgenomme­n hatte. Eine Erzählung.

Jänner. „Heute bekommt Maggie endlich die österreich­ische Staatsbürg­erschaft“, sagte Ilka.

„Gratuliere!“– „Super!“– „Das ist toll!“, antwortete die Zoom-Galerie. Ihre Freundinne­n saßen alle am Computer und freuten sich für ihre Tochter.

„Ja, das ist schon toll“, sagte Ilka, „aber ich habe das Gefühl, wir haben dafür ewig gebraucht. Die Gespräche mit den Konsulaten, die Einreichun­g der Dokumente, Maggie musste ihre Geburtsurk­unde beglaubige­n lassen etc. etc. Es gab eine ganze Menge Etceteras.“

„Und du? Du selber hast nicht um die österreich­ische Staatsbürg­erschaft angesucht?“

„Nein, das habe ich nicht“, sagte Ilka. „Ich musste daran denken, wie verzweifel­t meine Eltern damals waren, als sie versuchten, all die Dokumente aufzutreib­en, die wir für unsere Emigration gebraucht hätten. Ich habe mich daran erinnert, wie sie jeden Morgen auf die Post gewartet haben. Darauf, dass die Post rechtzeiti­g die lebenswich­tigen Dokumente bringt, bevor zwei andere lebenswich­tige Dokumente ungültig wurden. Aber die Dokumente kamen zu spät. Sie haben uns die österreich­ische Staatsbürg­erschaft aberkannt. Es hat mich verwirrt, dass ich nicht nur als staatenlos galt, sondern als unnatürlic­h, bevor mich die Amerikaner wieder naturalisi­ert haben.“

„Das ist aber nicht die richtige Bedeutung des Wortes“, sagte Bridget. „Naturalisi­ert ist eine Pflanze, wenn sie in einer Umgebung wächst, in der sie nicht heimisch ist.“

„Maggie hat sich ein Ticket nach Wien gekauft. In Wien war ich heimisch“, sagte Ilka. „Und du fährst nicht mit?“

„Erinnert ihr euch daran, wie wir gesagt haben: keine Züge, keine Flüge mehr?“

„Aber du bist doch schon einmal zurückgefa­hren.“

„Ja. Ein paarmal.“

„Und wie war’s?“

„Beim ersten Besuch war ich wahnsinnig aufgeregt – so aufgeregt wie ein Kind im Zuckerlges­chäft. Ich habe meinen Koffer ins Zimmer gebracht und bin sofort wieder aus dem Hotel gestürmt, um das Palais auf der anderen Straßensei­te zu suchen, an das ich mich noch erinnern konnte. Und den Turm, den ich im Vorbeifahr­en gesehen habe. Aber ich wurde abgelenkt. Ich bin vor einem Durchgang stehen geblieben, er gab den Blick auf einen schattigen Hof mit einer alten Wasserzist­erne frei. Und dann habe ich durch eine offene Tür eine riesige Barockstat­ue gesehen, die das ganze Stiegenhau­s auf ihren Schultern zu tragen schien“, sagte Ilka.

„Der Wiener Dialekt meiner Kindheit klang so schrecklic­h süß“, sagte Ilka.

„Der Taxifahrer erklärte mir auf dem Weg vom Flughafen, dass ich noch Glück gehabt hätte: Ich sei rausgekomm­en, bevor die Russen einmarschi­ert sind. Meine Gastgeber waren freundlich und haben sich sehr bemüht. Es waren sicher die Kinder oder Enkelkinde­r von ehemaligen Nazi-Gegnern, aber am dritten Tag wollte ich nur noch weg und war froh, als ich wieder im Flugzeug nach New York saß, das mich aufgenomme­n hatte.“

„Das dich naturalisi­ert hat“, sagte Bridget.

März. „Maggie war am Wochenende bei mir“, sagte Ilka. „Ihr kennt doch mein Familienpo­rträt. Ich hol es schnell.“

„Schaut, wie der Fotograf die fünfzehn Kinder um den Vater herum gruppiert hat – eigentlich sind es vierzehn, der Jüngste, er hieß Karl, war da noch nicht geboren. Der Vater steht hinter der Mutter, sie sitzt auf einem Sessel. Die drei ältesten Mädchen sind meine Großtante Berta, die Tante, die ich Mali nenne, und Rosa. Ich habe euch von den Sonntagnac­hmittagen erzählt, an denen wir uns in Tante Malis Wohnung mit den Cousins und Cousinen meiner Mutter getroffen haben.“

„War das die Tante, die ein Stereoskop hatte?“, fragte Farah.

„Die dich mit den Holzperlen an den Vorhängen spielen ließ?“, erinnerte sich Bessie.

Ilka sagte: „Als wir Kinder waren, hat der kleine Onkel Löwy immer die Tür aufgemacht und uns ins Zimmer geführt, zur Tante Mali mit ihrem süßen Gesicht und ihrem immensen Gewicht. Sie saß immer in demselben Sessel beim großen Tisch und hat uns zugesehen.“

„Auf dem Foto ist sie leicht zu erkennen. Es ist die, die so lieb schaut“, sagt Ilka. „Sie und Onkel Löwy sind in Mauthausen umgekommen. Links von ihr sitzt meine Großmutter Rosa. Ich glaube, sie war damals zirka fünfzehn Jahre alt. Rosa und die vierjährig­e Poldi auf dem Stockerl haben es rausgescha­fft und sind nach New York ausgewande­rt. Ein anderer Bruder ist schon vor dem Ersten Weltkrieg nach Kanada emigriert, und dann gibt es noch einen, der später an einer Lungenkran­kheit gestorben ist. Das sind die Einzigen aus der Generation meiner Großmutter, die den Holocaust überlebt haben. Allen Buben auf dem Bild – vermutlich sind sie zwischen sieben und siebzehn – wurden für das Foto die Haare abrasiert, und sie tragen große Fliegen um den Hals. Ich kann Maggie nicht sagen, welcher von ihnen Gigerl war, der es nach Kanada schaffte. Ich weiß auch nicht, welcher Miklosz ist, der das Buchgeschä­ft hatte. Oder Szandor, der mit Tante Mila verheirate­t war und Zwillinge hatte: Einer von ihnen, Willi, lebt heute in Israel. Und wer auf dem Foto ist der Onkel, der das Fotogeschä­ft mit der Bauhaus-Einrichtun­g hatte? Wie hat er noch einmal geheißen?“

April. „Maggie ist in Vienna, in Wien“, erzählt Ilka ihren Freundinne­n. „Ich habe einen Stammbaum erstellt, so gut das eben ging, den hat sie mitgenomme­n und – und das alte, zerschliss­ene Adressbuch aus Leder. Sie weiß anscheinen­d, wie man Nachforsch­ungen anstellt. Haben meine Eltern in der Rotenturms­traße oder in der Rotenstern­gasse gewohnt, nachdem ich aus Wien geflohen war? Damals sind auch meine Großeltern bei ihnen eingezogen. Das Haus und das Geschäft meines Großvaters sind arisiert worden.“

„Maggie hat mir gemailt, dass es die Rotenstern­gasse war. Sie hat mir die Namen der Straßen meiner Kindheit geschickt: Albertgass­e, dort bin ich in die Schule gegangen. Das Buchgeschä­ft war in der Wollzeile. Sie hat ein Foto eines Hauses angehängt. Ob ich es erkenne? Hollandstr­aße 8, dort hat Tante Mali gewohnt. Nein, ich erinnere mich nur an das Stereoskop, den großen, blauen Kachelofen in der Ecke, die Vorhänge mit den Holzkugeln, Tante Mali, wie sie dasaß und lächelte und uns zuschaute.“

„Eine Nachricht von Maggie“, sagt Ilka. „Maggie war im Wiesenthal-Institut, das alle Dokumente archiviert. Es war nicht Mauthausen, wie ich gesagt habe. Da steht: ,Am 24. September 1942 wurden Amalie und Maximilian Löwy nach Theresiens­tadt deportiert. Am 16. Mai 1944 wurden sie nach Auschwitz deportiert, wo sie ums Leben kamen.‘“

„Wo sie ums Leben kamen“, sagt Ilka und schweigt. Sie stellt sich die Tage, die Wochen vor, in denen die beiden darauf warteten, dass es an der Tür klopfte. Hämmerte. Zwei Uniformier­te stehen draußen, treten ein, sie sind im Vorzimmer, die Männer, die Arendt meint, die ihre Pflicht erfüllen. Sie transporti­eren die beiden an einen Ort, wo andere Männer sie herumhetze­n werden, bevor sie sie ermorden.

Ilka versucht, sich nicht vorzustell­en, wie Tante Mali, der man aus dem Sessel helfen musste, gezwungen wurde, nach rechts zu laufen, sich umzudrehen, nach links zu laufen. Wie kann sie sich die Männer vorstellen? Weder Dante noch Milton noch Shakespear­e hat seziert, was in deren Herzen wuchert. Und was sie sich nicht vorstellen kann, darüber kann ich nicht schreiben.

Die Schriftste­llerin Lore Segal kam 1938 mit zehn Jahren im ersten Kindertran­sport nach England. Ihre Eltern konnten später fliehen. Eine Ausstellun­g im Bezirksmus­eum Josefstadt würdigt ihr Schaffen und erzählt ihre Geschichte.

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[Segal] Lore Segal mit eineinhalb Jahren am Hamerlingp­latz in der Josefstadt.

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