Verliebt im Sommer nach Tschernobyl
Markus Berges erzählt von der Annäherung zwischen Hilfspfleger und Klinikpatientin.
Der 1966 geborene Markus Berges ist nicht nur Sänger und Songschreiber der deutschen Band Erdmöbel, er hat auch mit „Ein langer Brief an September Nowak“(2010) und „Die Köchin von Bob Dylan“(2016) bereits zwei Romanerfolge vorzuweisen. In seinem neuen Buch, „Irre Wolken“, sehen wir den Ich-Erzähler – der seinen Namen nicht preisgibt, sich aber einmal in einer fraglichen Situation „Franz“nennt – als Zivildiener in der „Hülle“, der psychiatrischen Klinik seiner Kleinstadt. Die Anstalt ist ihm vertraut, liegt sie doch auf dem Weg seines Viertels zur Diskothek, und da ist zumindest einer aus dem Freundeskreis stets ganz besonders lustig.
Schon seit dem Sommer 1973 kennt er den Spitznamen des Spitals, wie am Beginn zu lesen ist: Der seltsame Eigenbrötler im Nachbarhaus hat eines Tages Teile des Gehsteigs und der Straße bemalt – mit einem Motiv aus dem Märchen „Sindbad der Seefahrer“aus „1001 Nacht“. Dass da die Polizei hermuss, fordert gleich das gesunde Volksempfinden, und ihr den längst vergangenen Blockwarttagen nachsinnender Anführer befiehlt: „Der muss in die Hülle!“Und dort landet nach der Matura auch unser Erzähler. Aber der Franz ist nicht psychisch erkrankt, er leistet hier sein FSJ (Freiwilliges Soziales Jahr) als Hilfspfleger im von Nonnen betriebenen Spital ab.
Es ist 1986, die Aquarius–Zeit vorbei, es herrscht schon das Kohlozän. Bald merkt Franz: „Die Hülle“ist keine Hölle. Die meist alten kranken Frauen sind weder lästig noch unfreundlich, bei kleineren Verstößen gegen Vorschrift und Hierarchie wird meist ein Auge zugedrückt. Das Essen steht zwar nicht unter DreiHauben-Verdacht, aber der dickliche Franz will ohnehin abnehmen.
Erotik im Baumhaus
Eigentlich scheint alles paletti: „Die Patientinnen und ich teilten ein Leben der Mahlzeiten, Spaziergänge, Raucherpausen, Gesangsrunden und Brettspiele.“Doch dann kommt Anne. Die junge Frau aus begüterter Familie – ihr Vater hat gut bei der Planung und dem Bau eines AKW verdient – leidet an einer bipolaren Störung und ist freiwillig zur Behandlung da. Auch wenn sie durchaus Fortschritte macht, ist ein Exzess nicht unmöglich.
Als sie einmal aus der Klinik ausbüxt, läuft der von ihr „Kuli“genannte Franz ihr nach und erfährt dabei den Grund ihres Verhaltens: Sie hatte schon früher Angst vor einem AKW-Unfall gehabt – und soeben ist die Katastrophe in Tschernobyl passiert, Medien berichten in Endlosschleife über die aktuelle Gefahrenlage. Die beiden machen einen Ausflug und ziehen sich in ein Baumhaus zurück, in dem der Kuli erstmals erotische Anerkennung erfährt. Dass da die Polizei schon bei seinen Eltern nach ihm sucht, weiß Kuli noch nicht, wohl aber: Stress wird es geben. Und der könnte die angestrebte Weltkarriere seiner gerade gegründeten Rockband gefährden. Eine BoulevardSchlagzeile wie „Gitarrist und Hilfspfleger entführt kranke Patientin“käme nicht gelegen.
Was bei dieser sommerleichten Geschichte erfreut: die pfiffige Wahl der Kapiteltitel, der Verzicht auf plumpe Denunzierung von psychisch Erkrankten durch Schenkelklopfer-Humor. Außerdem gibt es Sätze wie „Trauer und Reue stiegen mir wie Sekt in die Nase“.