Die Schlange frisst den Mittelfinger
Als hätte er sie mit einem scharfen Messer aus dem Stoff absurder alltäglicher Begebenheiten herausgeschnitten: Short Storys von T. C. Boyle.
Der gut situierte, wohlerzogene Jurist Monsieur R. im Arles der 1960erJahre spekuliert auf die große Wohnung der Madame C., einer betagten, verwitweten Frau ohne Erben, und bietet ihr eine Leibrente an. Er kalkuliert, dass er bei ihrem nicht allzu fernen Ende die Hälfte des Marktpreises für die Wohnung bezahlt haben wird.
Die Wohnungsbesitzerin betrachtet den Vertrag als Wette auf ihren baldigen Tod, sie nimmt die Herausforderung an und beschließt, möglichst lange zu leben. Anfangs wird die etwas schrullige Dame, die sich dank des monatlichen Geldflusses wieder ein Dienstmädchen leisten kann, von ihrem hoffnungsfrohen Vertragspartner regelmäßig besucht. Er bringt Blumen, Schokolade und Zigaretten, kommt dann aber immer seltener. „Was wirklich schade war, denn sie genoss den Ausdruck von Verwirrung und Enttäuschung auf seinem Gesicht, wenn er sie munter und fröhlich vorfand und sie Praline für Praline, Glas für Glas, Zigarette für Zigarette mithielt.“
Zur Feier ihres 100. Geburtstags erscheint der zerrüttete Monsieur R. in Begleitung seiner verhärmten Frau, die Geschichte endet mit einer lapidaren Pointe. Wie überhaupt die Geschichten T. C. Boyles wirken, als hätte er sie mit einem scharfen Messer aus dem Stoff der mehr oder weniger absurden alltäglichen Begebenheiten herausgeschnitten, Slice-of-life-Narration im eigentlichen Wortsinn. Die 13 Texte der Sammlung „I walk between the Raindrops“sind zuvor in Zeitschriften wie dem „New Yorker“oder „Esquire“erschienen, die Geschichte „Die Wohnung“wurde auch in die Anthologie „The Best American Short Stories 2020“aufgenommen.
T. C. Boyle hat sein Erzähltalent – in über 100 Short Storys und 19 Romanen – in der kurzen wie in der langen Form bewiesen; der Roman „América“(„Tortilla Curtain“) aus dem Jahr 1995 über das Elend illegaler Einwanderer in Kalifornien, die Hybris liberaler US-Amerikaner und die Umweltzerstörung hat Eingang in Schulbücher gefunden.
In der neuen Geschichtensammlung spannt sich der Bogen von der Vergiftung eines halben Dorfs durch gestrecktes Mehl im Frankreich der Nachkriegszeit über die Isolation zu Pandemiezeiten bis zur Dystopie einer aus dem Ruder laufenden Automatisierung. Boyle erzählt von der unmittelbaren Gegenwart, unserer jüngeren Vergangenheit und einer gar nicht so fernen Zukunft.
Nicht nur der kurzgeschichtenübliche unvermittelte Einstieg, sondern auch das abrupte Ende mancher Erzählung fordern die Ambiguitätstoleranz der Leserin und machen den Reiz der Fabulierkunst Boyles aus. So zum Beispiel im futuristischen Setting von „Schlaf am Steuer“, in dem sich Jugendliche von James Dean und „Rebel Without a Cause“inspirieren lassen und eigensinnig gewordene autonom fahrende Autos eine zentrale Rolle spielen. Sehr fein auserzählt sind, wie so oft in Boyles Werk, Szenen, in denen es um das Verhältnis der Menschen zum Tier oder generell zur Natur geht, wie in „Hundelabor“oder in „Dies sind die Umstände“. Hier verbringt der Protagonist seiner Frau zuliebe zwei Stunden bei einer Art Selbstfindungsseminar in einem Naturschutzgebiet, obwohl er sich dort vor Schlangen fürchtet. Doch dann begegnet er einer ausgerechnet im heimischen Garten, und der fällt sein Mittelfinger zum Opfer.
Immer wieder geht es bei Boyle auch um komplizierte zwischenmenschliche Beziehungen, ob alltäglich oder drastisch. Da ist zum Beispiel eine Highschool in den 1980er-Jahren ein Hort der unangemessenen sexuellen Beziehungen, und der junge Aushilfslehrer lernt Lektionen fürs Leben.
In einer anderen Geschichte werfen die enervierten Eltern ihren Filius, einen aggressiven Tunichtgut, per Räumungsklage aus dem Haus. Ein Ich-Erzähler ist ein erfolgreicher Autor, der damit konfrontiert wird, dass er einen erwachsenen Sohn hat, von dem er bisher nichts ahnte; ein anderer ist ein weißer Blues-Musiker, der sich gegen den Vorwurf kultureller Aneignung wehren muss. Eine besondere Story ist „Der dreizehnte Tag“. Darin schildert ein IchErzähler, von Anfang an skeptisch gegenüber dem Unterfangen, seine Fahrt auf einem luxuriösen Kreuzfahrtschiff, auf dem er und seine Frau zwei Wochen auf See und bei Landgängen Asien „mit ihren fünf Sinnen“erleben sollen.
Kaum hat das Schiff abgelegt – die beiden haben soeben erst den Luxus von Außenkabine mit Balkon, „alles in allem“knapp 35 Quadratmeter, erkundet und sitzen beim ersten Dinner im „5-Star Red Beryl Celebrity Dining Saloon“–, müssen sie in den Hafen von Yokohama zurückkehren. „Warum? Weil sich herausgestellt hatte, dass einer der Passagiere – ein Chinese aus Wuhan, der bis dahin bloß irgendeiner von 2666 Passagieren gewesen war – Fieber hatte.“
Ab sofort dürfen die Passagiere ihre Kabinen nicht mehr verlassen, Personal in Schutzanzügen und mit Masken stellt ihnen zu unregelmäßigen Zeiten immer miserableres Essen vor die Tür, das Informationssystem wird abgeschaltet, kein Hafen erlaubt den Passagieren, von Bord zu gehen. Der Erzähler findet auch „nach allem, was geschehen ist“, dass „Covid-19 eher wie der Markenname eines küchengeeigneten Linoleums klingt und nicht wie die Bezeichnung einer ansteckenden Krankheit, die imstande war, sich durch die Menschheit zu fressen und ein Schiff, so unerschütterlich wie die Beryl Empress, in ein schwimmendes Gefängnis zu verwandeln“. Während sich seine Frau in den Schlaf flüchtet, bedeutet die wochenlange Quarantäne für die frisch vermählte Mitreisende in der Kabine gegenüber nicht nur das Ende ihrer Ehe, sondern den psychischen Zusammenbruch.
Boyles Figuren stammen aus allen Schichten und Generationen und sind mit wenigen Strichen charakterisiert. In „SKS 750“geht es in einer schönen neuen Welt um quantifiziertes soziales Wohlverhalten. Boyle breitet dabei auf wenigen Seiten eine Szenerie der totalen Überwachung aus, Drohnen in Taubengestalt inklusive, und zeigt zugleich die Auflösung jeder Loyalität in einer durchmonetarisierten Gesellschaft, in der der Umgang mit Unangepassten und Unerwünschten zum Verlust von Privilegien und von Einkaufsrabatten führt – alles gar nicht so weit hergeholt.
Fragwürdige Entwicklungen denkt T. C. Boyle gern zu Ende, das ist seine Art der unaufdringlichen Sozialkritik; Schrecken und Verstörung destilliert er spielerisch aus Alltagssituationen. So wird diese Sammlung zum anregenden Lesevergnügen auf dem üblichen hohen Boyle-Niveau.