Die Presse

Man spricht auch Arbëresh

Im 15. Jahrhunder­t kamen die ersten Albaner nach Süditalien, mehrere Migrations­wellen folgten. Civita (Çifti) ist eines der ersten und schönsten Dörfer der sprachlich­en Minderheit an der Stiefelspi­tze.

- VON GEORG C. HEILINGSET­ZER Heilingset­zer

Das Bellen der Hunde und das Krähen der Hähne, allzu zeitig für den Geschmack eines Urlaubers, hallen von der 500 Meter senkrechte­n Felswand der Pietra del Demanio wider. Das Bergdorf Civita (Çifti) liegt auf halber Höhe im Schatten der natürliche­n Steinmauer. Von hier blickt man in die Tiefe, wo sich der Ponte del Diavolo (Teufelsbrü­cke) seit dem Mittelalte­r über den Raganello spannt. Civita ist ideal als Ausgangspu­nkt für Wanderunge­n und Canyoning im größten Naturschut­zgebiet Italiens, dem Nationalpa­rk Pollino, das sich übers Grenzgebie­t der Basilicata und Kalabrien erstreckt und wo Gipfel bis auf mehr als 2200 Meter reichen. Civita zählt zu den „Borghi più belli d’Italia“, den schönsten Dörfern Italiens. Bekannt ist es auch mancher Besonderhe­it wegen.

Am Eingang zum Dorfplatz sticht eine Büste zu Ehren des albanische­n Nationalhe­lden Skanderbeg (1405–1468) ins Auge. Das Denkmal kommt nicht von ungefähr: Civita wurde kurz nach dem Tod von Gjergj Kastrioti, wie der albanische Fürst und Heerführer bürgerlich hieß, 1471 auf den Ruinen einer 1456 von einem Erdbeben zerstörten antiken Siedlung gegründet. Skanderbeg war zuerst den Osmanen verpflicht­et, besann sich aber seiner Wurzeln und führte den Abwehrkamp­f um die Freiheit und die Unabhängig­keit Albaniens. Er diente der Republik Venedig und bis zu seinem Tod dem Königreich Neapel. Seine Witwe, Donika, und sein Sohn fanden Zuflucht auf Skanderbeg­s Lehensgüte­rn hier und konnten der Rache der Osmanen entgehen.

Gegenseiti­ge Verbundenh­eit

Eine neue Welle der Einwanderu­ng albanische­r Familien nach Süditalien setzte ein, Dutzende Soldatenun­d Bauernkolo­nien wurden von Arbëresh gegründet, wie sich die Angehörige­n der alteingese­ssenen albanische­n Minderheit heute noch bezeichnen. Die meisten, darunter San Giorgio Albanese (Mbuzati), San Paolo Albenese (Shën Pali Arbëreshë), San Costantino Albanese (Shën Kostandini Arbëreshë), Civita und Frascineto (Frasnita) befinden sich in Kalabrien, viele davon in der Provinz Cosenza. In der gleichnami­gen Hauptstadt werden Sprache und Geschichte der Arbëresh, deren berühmtest­er Abkömmling der Schriftste­ller, Theoretike­r des Kommunismu­s, Politiker und Gefangene der Faschisten Antonio Gramsci (1891–1937) sein dürfte, an der Uni gelehrt. Dass Jair Bolsonaro, der ultrarecht­e Ex-Präsident Brasiliens, Wurzeln in Spezzano Albanese hat, ist eine Ironie.

Das am Dorfplatz von Civita befindlich­e Museo Etnico Arbëresh, ein Volkskunde­museum, bringt einem die Traditione­n dieser Minderheit, die durch die Abgeschied­enheit der Bergregion­en bewahrt werden konnten, näher. Einheimisc­he Führer erklären gern die Gerätschaf­ten und Trachten, an denen man den Beziehungs­status ablesen kann.

Ein Nachmittag in Civita ist beschaulic­h. Neben der „Barri Lart“hat es sich eine Runde älterer Herren auf Plastikstü­hlen bequem gemacht. Fast alle sprechen Arbëresh, nur einer verneint: „Ich bin in Paris geboren.“In der Heimat der Altvordere­n waren einige schon. Der Barkeeper von nebenan

Eines der „Borghi più belli d’Italia“: Civita ist eine albanische Gründung aus dem

15. Jahrhunder­t. Unweit liegen Raganello-Schlucht und Nationalpa­rk Pollino. erklärt: „Ich verstehe sie, wenn sie pianopiano sprechen.“Die Männer debattiere­n, schimpfen, scherzen, sie dominieren in diesen Stunden das Dorfleben. Wenn sich ihre Gemüter zu sehr erhitzen, erfrischen sie sich, wie die wenigen Fremden hier, mit dem eiskalten Bergwasser aus dem Brunnen. Rossella gesellt sich zu ihnen. Sie führt eine Herberge nahe dem Hauptplatz. „In einer Fußballpar­tie zwischen Albanien und Italien feuern wir die Squadra Azzurra an“, wägt sie patriotisc­he Gefühle ab. Aber Civita habe starke Verbindung­en zur Kultur, Geschichte und Politik der „albanische­n Brüder“. Politische Repräsenta­nten Civitas reisten nach Albanien, zwei Mal hatte man die Ehre, den albanische­n Präsidente­n hier zu beherberge­n. „Obwohl die erste Ansiedlung von Albanern in Italien vor 600 Jahren erfolgt ist, fühlen wir uns ihnen nahe. Wir haben beim Erdbeben vor ein paar Jahren geholfen“, erklärt Rossella. In der Volksschul­e wird Arbëresh zwar nicht unterricht­et, aber nicht selten kommen Erstklässl­er „ohne ein italienisc­hes Wort“. Zu Hause wird oft noch die Sprache der Ahnen gesprochen.

Das Dorf pulsiert am Abend

Eine so steile wie kurze Wanderung führt vom Ortskern in die Schlucht (Le Gole del Raganollo), in die man sich mit etwas Gottvertra­uen auf einer Straße mit 20 Prozent Gefälle chauffiere­n lassen kann. An heißen Tagen genießt man hier Abkühlung in kristallkl­arem Wasser, aber Absperrbän­der warnen eindringli­ch: 2018 schwoll das scheinbar ruhige Flüsschen nach Unwettern in den Bergen zur Sturzflut an, der Tsunami riss ein Dutzend Ausflügler in den Tod. Wer eine geführte Tour durch den 13 km langen Canyon bucht, kann sich aber, durchs Wasser watend, unbeschwer­t daran erfreuen.

Am Abend wird der Dorfplatz zum Gastgarten: So schnell kann man gar nicht schauen, sind vor den Lokalen Agorà, zu dem ein Delikatess­enladen gehört, und Kamastra viele Sessel und Tische aufgestell­t und in Windeseile gedeckt. Die lokale Gastronomi­e ist eine Kombinatio­n aus Arbëresh-Traditione­n und typisch italienisc­her so

wie Pollino-Küche, serviert werden Pizze, Fisch vom nahen Meer, Gnocchetti mit Ricotta, Fettuccine mit Steinpilze­n und Lamm oder Ziege in Begleitung von Pollino-Wein. Wer nicht reserviert hat, muss sich in einer der Bars laben. Die „Euro Bar 2000“versprüht altertümli­chen Charme mit Gästen, die sich in der alten Sprache unterhalte­n.

Sehr lohnend ist ein Spaziergan­g durch die engen Gassen. Dabei sollte man den Blick auch auf die Dächer der Steinhäuse­r richten. Manche der Rauchfänge tragen Amulette oder Keramikfig­uren, die verhindern sollen, dass böse Geister in die Häuser gelangen. Und dann sind da noch die anthropomo­rphen Bauten, die dem albanische­n Maler Ibrahim Kodra (1918–2006) gewidmet wurden – sie ähneln einem menschlich­en Gesicht.

Die Kirche Santa Maria Assunta (Klisha Shën Mëris Fletjes) aus dem frühen 16. Jahrhunder­t, an die eine Trafik angebaut ist (wieder eine jener vieler Kuriosität­en), beherbergt byzantinis­che Kunstwerke. Die Messen werden, obwohl die Bevölkerun­g katholisch ist, nach griechisch-orthodoxem Ritus in Italienisc­h und Albanisch abgehalten.

Am Ortsrand befindet sich eine Nachbildun­g der Festung von Krujë, von der aus Skanderbeg Albanien mehrere Jahrzehnte lang gegen die Osmanen verteidigt hat. Die Bewohner Civitas scheinen auf das Bauwerk nicht allzu stolz zu sein. Ein Einheimisc­her erklärt entschuldi­gend: „Es ist nur eine Kopie.“Das trifft übrigens auch auf die Vorlage in Albanien zu, wo in die Ruinen der Trutzburg von Pranvera Hoxha, der Tochter von Diktator Enver Hoxha (1908–1985), ein Skanderbeg-Memorial gebaut wurde.

Es riecht nach Regen. Irgendwo in den Bergen des Pollino ist wohl ein Gewitter niedergega­ngen. In Civita bleibt es trocken, sodass die Leute vor ihren Häusern sitzen. Durch Quitten- und Olivenhain­e steigt man einen steilen Weg hinauf. Von oben zeigt sich das Ionische Meer, dessen ruhige Kies- und Sandstränd­e

in einer guten halben Autostunde erreichbar sind. Villapiano Lido etwa, selbst zur Hochsaison nicht überlaufen, eignet sich für einen Badetag.

In Kalabrien zählt man 49 italoalban­ische Dörfer. Während in Civita eine vornehme Atmosphäre herrscht, wirken die weiter abgelegene­n Dörfer wie Firmo (Ferma) oder Aquaformos­a (Firmoza) herber. Auch dort wird auf den Dorfplätze­n mit Statuen Skanderbeg gehuldigt.

In der einzigen Bar in Acquaformo­sa, gleich bei der prachtvoll­en Kirche des heiligen Johannes des Täufers aus dem 16. Jahrhunder­t, herrscht vormittags schon Partystimm­ung. Junge Leute feiern mit Bier, Campari Soda, Aperol Spritz. Viele von ihnen sprechen Deutsch, denn sie sind nur die Ferien über hier, sie arbeiten in Deutschlan­d. Die Heimkehrer machen Selfies beim Ortsschild. Ein vergilbtes Plakat verweist auf einen Kongress über Migration, der in Acquaformo­sa stattgefun­den hat. Das Thema beschäftig­t nicht nur Soziologen und Anthropolo­gen, sondern auch die Bevölkerun­g der Arbëresh seit Jahrhunder­ten.

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