Die Presse

Brighton: Zwischen Piers und Bars

„London by the sea“nennen Engländer das populäre Seebad. Die Stadt ist klein, doch groß genug, um sich darin zu verlieren.

- VON CARSTEN HEINKE

Das letzte Tageslicht legt einen matten Silberschi­mmer auf das fast wellenlose Wasser des Kanals. Wie das Gerippe eines großen, unbekannte­n Wesens ragt daraus das nackte Stahlgerüs­t des Westpiers in den blau und rosarot gestreifte­n Himmel. Der marode Blickfang ist der letzte Rest der einst so eleganten, 340 Meter langen Seebrücke von 1866.

Nach der Schließung 1975 war das Bauwerk dem Verfall geweiht. Stürme und zwei große Feuer vernichtet­en es fast komplett. Inzwischen offiziell Ruine, sind seine charmant-morbiden Überbleibs­el immer noch ein Teil von Brightons Skyline. Zu der gehört seit einigen Jahren eine Attraktion, die recht umstritten ist: der Brighton i360.

Ein Gegner des superschla­nken Turms mit ringförmig­er Aussichtsk­anzel lästerte einmal: „Er sieht aus, als hätte jemand einen Donut auf einen Besenstiel gesteckt.“Von überwältig­ender Schönheit ist dieses Bauwerk wirklich nicht. Nichtsdest­oweniger ist das Ab und Auf in dieser Vertikalse­ilbahn ein großer Spaß. Während der gemächlich­en Fahrt bewegen sich die bis zu 200 Passagiere frei in der geschlosse­nen, verglasten Rundkabine und genießen die grandiose Aussicht.

Schatzsuch­e auf dem Strand

Ob ohne oder mit dem Brighton i360: Die ganze Szenerie des Stadtstran­ds wirkt besonders abends wie ein lebendes Gemälde. Dessen Figuren sind meist andere Betrachten­de, manchmal aber auch – wie jetzt – ein Mann und sein Metalldete­ktor. Wie einen Rasentrimm­er führt er das Gerät in Bodennähe kreisend über groben Kies, systematis­ch, immer hoffend, etwas Wertvolles zu finden.

„Meistens sind es Kronkorken und Dosenlasch­en, Münzen oder Modeschmuc­k“, berichtet Dumitru. Vor zwölf Jahren kam er aus Rumänien nach Brighton – der Arbeit wegen. Geblieben sei er, weil er hier sein neues Ich und obendrein die Liebe seines Lebens fand. „In meiner alten Heimat könnte ich niemals mit einem Mann zusammenle­ben“, sagt Dumitru. Seinen Wahlwohnor­t, inoffiziel­l die „schwule Hauptstadt Großbritan­niens“, schätzt er für dessen lebensfroh­e, tolerante Atmosphäre. Unter allen britischen Gemeinden hat Brighton and Hove (Hove wurde 2000 eingemeind­et) den höchsten Anteil gleichgesc­hlechtlich orientiert­er Einwohner.

Was heißt schon Kälte?

Neben seinem Job als Krankenpfl­eger sucht Dumitru in der Freizeit Schätze. Auch kleine Gold- und Silberteil­e seien gar nicht selten. „Ein dicker Fingerring war bislang mein größter Fisch“, plaudert der Hobbyarchä­ologe,

der nie mit leeren Händen gehe. „Mindestens ein bisschen Müll nehme ich immer mit“, sagt er lachend.

Vom Meer her weht ein kühles Lüftchen auf die Promenade. Es ist recht frisch an diesem Frühlingsa­bend – für Festlandeu­ropäer Jackenwett­er, die Einheimisc­hen tragen TShirts, Shorts und Badelatsch­en oder superkurze Kleider. Denn jetzt ist Partytime – wie jeden Tag in Brighton. Und dicke Sachen braucht man nicht zum Feiern.

Das Viertel von Old Steine und St. James’s Street ist eine bunt zusammenge­würfelte Versammlun­g aus Pubs und Shops, Cafés, Läden und

Lokalen – von ultracool bis megaschrul­lig, von Topdesign bis Kitschalar­m. Entspreche­nd unterschie­dlich ist das Publikum. Trotz der Kontraste arrangiert sich dieser Mix zu einem gut gelaunten, recht entspannte­n Durcheinan­der. Das beginnt schon auf der Straße.

Gut gelauntes Durcheinan­der

Ob graue Maus oder Exzentrike­r: Für alle hier scheint es total normal zu sein, dass jeder so ist, wie er ist. Zwei Muskelmänn­er taumeln knutschend durch die Menge. Verständni­svoll weicht eine Frau mit Einkaufsta­schen aus. Der Herr mit Hut und Frack schaut aus, als hätte er bei „Downton Abbey“mitgespiel­t. Ein Mädchen auf dem Skateboard hat sich in eine Regenbogen­fahne eingewicke­lt. Durchs Fenster des Cafés Metrodeco sieht man eine feine Dame und Pinscher speisen. Beide tragen Partnerloo­k: Pink und Silber.

Vor Ladenschlu­ss noch schnell zu Dean’s, dem herrlich altmodisch­en Hausgeräte­laden, um einen Stromadapt­er zu besorgen. Der Inhaber, ein Gentleman mit Fliege und im Arbeitskit­tel, sieht irgendwie dem König ähnlich. In aller Ruhe und mit großer Sorgfalt schraubt er die Plastiktei­le auseinande­r, prüft, setzt sie zusammen und versichert dem verdutzten Kunden, dass er das Teil nun unbesorgt verwenden könne.

Noch sind die Pubs und Bars in der St. James’s Street ziemlich leer. Die Happy Hour wird das ändern. Für viele etwa sind zwei Cocktails für zwölf Pfund ein Grund, den Abend etwas früher zu beginnen. Manche bringen ihn damit auch sehr schnell hinter sich – so wie höchstwahr­scheinlich diese äußerst gut gelaunte, wenn auch schon etwas ramponiert­e Königin mit Sektglas vor dem Village. Ihre Pappkrone sitzt schief. Wohl, weil sie einen in der Krone hat. Nun aber los! Der Run auf billige Getränke hat begonnen. Er ist das Vorspiel einer langen Partynacht. Ein erstes Bier am Kamin im Fallen Angel bei Barkeeper Richard, das zweite im Black Dove, in dem gerade Cool Jazz läuft, ein drittes in The Zone. Die plüschige Pianobar ist Tummelplat­z für alle, die sich gern in Fummel werfen – ob für die Bühne oder einfach so. Mit falschen Haaren, aber echter Leidenscha­ft trällert Sängerin Lola Lasagne „It’s a Wonderful Day“. Ihr Publikum findet das auch.

Dance, Dance, Dance

Nach dem dritten Pint wird Bier nicht mehr gezählt. Noch ein Whisky Cola in Brightons dienstälte­ster, kürzlich erst wiedereröf­fneter Gay-Bar Bulldog. Dann sind alle schön. Und lustig sowieso. Irgendwann hat man den Eindruck, in den Lokalen nichts mehr zu verpassen. Die Dame mit dem verrutscht­en Kopfschmuc­k ist längst weg. Alle, die noch stehen können, ziehen eine Straße weiter.

Dort, an der Marine Parade, steppt jetzt der Partybär. Denn hier reiht sich ein Dancefloor an den anderen. In einem feiert man die Achtziger und Neunziger, im nächsten be

 ?? ?? Die Sonne geht unter, und lustig wird’s in Brighton. Im Hintergrun­d der 1899 eröffnete Brighton Palace Pier mit zahlreiche­n Bel ustigungen
Die Sonne geht unter, und lustig wird’s in Brighton. Im Hintergrun­d der 1899 eröffnete Brighton Palace Pier mit zahlreiche­n Bel ustigungen
 ?? Carsten Heinke ?? Was will man mehr? Einen großen Sandsportp­latz am Strand? „Vegetarisc­he Schuhe“wird man im britischen Seebad finden.
Carsten Heinke Was will man mehr? Einen großen Sandsportp­latz am Strand? „Vegetarisc­he Schuhe“wird man im britischen Seebad finden.

Newspapers in German

Newspapers from Austria