In der sich wandelnden Brache
Gemetzel, Flugplatz, Wohnbau: Mit Regisseurin und Choreografin Claudia Bosse unterwegs in den Übergangsorten der Seestadt.
Langsam fährt die U2 in der Station Seestadt ein. Auf der einen Seite türmen sich moderne Wohnbauten hinter- und nebeneinander. Keiner gleicht in seiner Form dem anderen, und doch wirken sie vom Gefühl her sehr ähnlich. Auf der nördlichen Seite zeigt sich hingegen ein anderes Bild: Bagger stehen zwischen den Baulücken, nur vereinzelt beginnt sich auch hier der Wohnbau auszubreiten, dahinter: Brachland. Vor dieser Schwelle zwischen Urbanität und unbebauter Landschaft befinden sich die Seestadt-Studios, Claudia Bosses aktueller Arbeitsplatz. „Ich bin mit dem Fahrrad über die Donau hierhergekommen und stand plötzlich mitten im Feld. Da war nichts außer Mohn“, erzählt sie von ihrem ersten Berührungspunkt mit dem brachliegenden Terrain. Ein temporärer Raum, den es in kurzer Zeit nicht mehr geben wird und der in ihrem neuen Projekt „haunted landscape/s“bespielt wird.
Die Zuschauer werden so platziert, dass sie in das Brachland blicken und das „Theater in der Landschaft“mit seinem eigenen Ökosystem sowie seinen Eigenheiten beobachten können. Da könne es schon passieren, dass während der Performance ein Bagger vorbeifährt und man von irgendwo Schreie hört, erzählt die Künstlerin. Außerdem werden abwesende Landschaften wie ehemalige Bergbaugebiete und Vulkanlandschaften mit der Seestadt verknüpft, um zu zeigen: Jeder Ort ist immer wieder einer Transformation unterworfen.
Urbanismus am Schlachtfeld
Wie auch die Seestadt, die 1809 der Schauplatz der Schlacht bei Aspern war. Nach dem Kampf war das Gebiet mit Kadavern von Menschen und Pferden sowie Verletzten übersät. „Die Gefallenen wurden knapp unter der Erde beerdigt, die Körper einfach übereinandergeworfen“, erzählt Bosse. Bekleidet waren sie nicht, da die Uniformen wieder benutzt wurden. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand auf demselben Gebiet das Flugfeld Aspern, das während der Zeit des Nationalsozialismus als Zivil- und Militärflugplatz genutzt wurde. Auch Arbeitslager sollen hier gewesen sein. „Ich finde diese Überschreibung interessant. Man glaubt, ein Ort war schon immer so, dabei verändert er sich permanent.“
Jetzt passiere hier, so Bosse, ein „Top-down-Urbanismus“, die aus einem Guss geformte Stadt; das könne man „durchaus kritisch“sehen. „Diese spurenlose Planung ist teilweise unheimlich“, sagt sie und zeigt auf die Bauten und Spielplätze, die sie als „steril“empfindet. Allerdings werde das Gebiet auch wieder überschrieben. Etwa mit weiblichen Straßennahmen auf dem ehemaligen Schlachtfeld: Am-Ostrom, benannt nach Elinor Ostrom, einer Theoretikerin zu Formen des kommunalen
Handelns, oder Jane Jacobs, eine Aktivistin, die sich für gemeinschaftsorientierten Städtebau einsetzte.
Bewohner im Chor
Wir wandern zurück in den südlichen, belebteren Teil. Auf der Straße grüßt Bosse einige Menschen, ruft ihnen ein „Schönes Wetter heute!“zu. Ein bisschen Dorfflair stellt sich ein. „Wir haben natürlich Interesse, mit den Menschen vor Ort zu reden und sie einzubeziehen.“Der Ort solle eben nicht nur „Deko“sein. Viel lokales Publikum käme bereits zu den Proben, Personen der Tagesstätte Am Seebogen, deren Café wir auch einen kurzen Besuch abstatten, treten sogar als Bewegungschor auf.
Wieder bei der U-Bahn-Station angekommen, schauen wir zurück auf den halb fertigen Stadtteil vor der Brache. „Dieser Blick interessiert mich, weil man das Eingreifen in die Erde im Transformationsprozess beobachten kann“, sagt Bosse und ergänzt: „Solche Übergangsorte erzählen immer mehr über die Menschen als die fertigen Orte.“