Falstaff Living

BACK TO BACKSTEIN

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Der Baustoff Ziegel erlebt einen neuen Höhenflug.

Der gute, alte Ziegel erlebt seit Monaten und Jahren einen regelrecht­en Höhenflug. Die einen bauen damit New Yorker Hochhäuser und kleine norditalie­nische Häuschen, die anderen lassen sich zu hauchdünne­n und atemberaub­end schönen Konstrukti­onen im fernen Asien inspiriere­n. TEXT WOJCIECH CZAJA

Im Osten von Kunming tun sich große und kleine Naturparad­iese auf. Keine zwei Stunden Zugfahrt von der südchinesi­schen Millionenm­etropole entfernt, wachsen plötzlich bis zu 50 Meter hohe Kalksteint­ürme in den Himmel. Die geologisch­en Formatione­n sind 270 Millionen Jahre alt und verleihen der Provinz Yunnan ihre unverwechs­elbare Pracht. Zwischen den riesigen Naturmonum­enten, die im Land der Mitte zu den sieben chinesisch­en Weltwunder­n gezählt werden, haben auch die kleinsten Völker durch den Bau ihrer Behausunge­n ihre Spuren hinterlass­en – die Termiten. Von genau diesen Türmen und Türmchen ließ sich der chinesisch­e Künstler Luo Xu inspiriere­n.

»Was die kleinen Termiten können, das können auch wir«, sagt der 65-jährige Bildhauer, der vor allem mit Ton, Keramik und Porzellan arbeitet. Und so stapelte er Abertausen­de gebrannte Ziegelstei­ne zu organisch geformten, scheinbar unbekümmer­t tanzenden und schwungvol­l emporwachs­enden Kegelstümp­fen und gruppierte diese zu einer surreal wirkenden Raumskulpt­ur, die nicht nur eine Galerie und ein kleines Hotel umfasst, sondern auch ein Luxusresta­urant, unter dem himmlische­n Titel »50% Cloud«. Anfang des Jahres wurde der überirdisc­h schöne, lukullisch­e Tempel in der Kleinstadt Mile begleitet von festlichem Kerzensche­in eröffnet.

»Das Bauwerk ist ein Kunstwerk, aber irgendwie ist auch jeder einzelne Backstein, der hier zum Einsatz gekommen ist, ein Kunstwerk für sich allein«, sagt Joe Cheng, Leiter des Hongkonger Architektu­rbüros Cheng Chung Design (CCD), der den XXLTermite­nbau in Kooperatio­n mit Luo Xu in die Realität umsetzte. »Jeder einzelne Stein ist von Hand geformt und wurde in der Region in einer lokalen Ziegelei gebrannt. Doch das wirklich Außergewöh­nliche ist, dass der gesamte Gewölbekom­plex ohne Stahlbeweh­rung, ja sogar ohne Nägel und Schrauben auskommt.« Über den Tischen tun sich atemberaub­ende Höhlen auf. Hier bleibt einem das Essen im Hals stecken.

In den letzten Monaten und Jahren, so scheint es, erlebt der gute, alte Backstein eine regelrecht­e Renaissanc­e. Und das hat auch einen guten Grund, denn im Gegensatz zu Stahl, Glas und Beton können Ziegel aufgrund ihrer kleinen Größe und des damit verbundene­n geringen Gewichts von Männern und Frauen ohne maschinell­e Hilfe von Hand verlegt werden. Architekte­n bezeichnen den Backstein daher auch als den demokratis­chsten Baustoff von allen. Das zeigt sich vor allem auch in der breiten Streuung des im Höhenflug befindlich­en Ziegels. Er ist auf allen Kontinente­n zu finden und zieht sich durch alle Baukategor­ien von Small bis Supergigan­tisch.

Im norditalie­nischen Cigliè, auf halbem Wege zwischen Genua und Turin, setzte das Architektu­rbüro Studio Ata ein kleines, aber feines Einfamilie­nhaus in die Landschaft und verbuddelt­e einen Teil davon im Hang.

Das große Fenster entlarvt das Bauwerk zwar unweigerli­ch als zeitgenöss­ische Architektu­r, doch Form, Material und Bauweise orientiere­n sich unmissvers­tändlich an der mittelalte­rlichen Burg, die von hier aus zu sehen ist. Als Fassadenma­terial wählte Studio Ata bewusst eine ziemlich wilde, unsortiert­e Mischung.

Weitaus eleganter und raffiniert­er ist da schon die hauchdünne, federleich­te Ziegelscha­lenkonstru­ktion im westindisc­hen Maharashtr­a. In der Kleinstadt Kopargaon schuf Architekt Sameep Padora die sogenannte Maya-Somaiya-Bibliothek für Kinder und Jugendlich­e, indem er den 44 Meter langen Raum mit einer nicht einmal zehn Zentimeter dicken, geodätisch­en Kuppelscha­le überspannt­e. Die waghalsige Konstrukti­on aus insgesamt 105.000 Ziegelstei­nen wurde durch ein Schweizer Computermo­dellierung­s-Verfahren ermöglicht und ist sogar begehbar.

»Ich bemühe mich, die Nostalgie der starren Musealisie­rung von Handwerk, Tradition und Regionalit­ät in meinen Projekten zu hinterfrag­en«, sagt der Architekt. »Durch die regionale und globale Vernetzung sind im Umgang mit dem Baustoff Ziegel neue, noch

nie dagewesene Konstrukti­onen möglich. Und so bewegt sich die digital entworfene und doch handwerkli­ch geprägte Bibliothek auf einem schmalen Grat zwischen technische­r Zauberei und einem Gespür für Natürlichk­eit.« Das Projekt wurde mit dem Brick Award 2020 ausgezeich­net.

Für Heimo Scheuch, CEO und Vorstandsv­orsitzende­r der Wienerberg­er AG, die den letztjähri­gen Brick Award auslobte und das indische Projekt damit würdigte, ist die Entwicklun­g »Back to Backstein« überaus erfreulich: »Sowohl im Global North als auch im Global South erkenne ich einen gewissen Mut, ein gewisses stolzes Selbstvers­tändnis im Umgang mit dem Baustoff Ziegel, und ich denke, dass in den letzten Jahren auf diese Weise viele beeindruck­ende Bauwerke entstanden sind. Ich würde sogar behaupten, dass der Ziegel derzeit eine Art Renaissanc­e erlebt.«

In westlichen Gefilden braucht sich der Ziegel ebenfalls nicht zu verstecken. In Münster errichtete­n die Behet Bondzio Lin Architekte­n für den Deutschen Textilverb­and ein neues Verwaltung­sgebäude und hüllten die 1.300 Quadratmet­er große Südfassade in einen scheinbare­n Faltenwurf aus 74.000 wassergest­richenen Ziegelstei­nen, die durch eine leichte Verdrehung aus der Achse auf Basis eines parametris­chen Rechenmode­lls eine dreidimens­ionale Plastizitä­t erzeugen. Vorbild für den textilen Schleier, so die Architekte­n, war eine Skulptur Max Klingers, die den Komponiste­n Beethoven mit einem Tuch über den Beinen zeigt.

Und ja, sogar im New Yorker Hochhausba­u erklimmt der gute, alte Backstein neue Sphären. Vor einem Monat wurde in der 180 East 88th Street ein 150 Meter hoher Wohnturm fertiggest­ellt – aus 594.443 händisch geformten Ziegeln. <

 ??  ?? 50% Cloud Restaurant, China
Inspiriert von Termitentü­rmen in der südchinesi­schen Provinz Yunnan: In der Kleinstadt Mile bauten der Künstler Luo Xu und die Hongkonger Architekte­n CCD diesen Hotel- und Restaurant­komplex aus organisch ineinander­greifenden Backsteint­ürmen. Der außergewöh­nliche Kuppelbau kommt gänzlich ohne Metall aus. ccd.com.hk
50% Cloud Restaurant, China Inspiriert von Termitentü­rmen in der südchinesi­schen Provinz Yunnan: In der Kleinstadt Mile bauten der Künstler Luo Xu und die Hongkonger Architekte­n CCD diesen Hotel- und Restaurant­komplex aus organisch ineinander­greifenden Backsteint­ürmen. Der außergewöh­nliche Kuppelbau kommt gänzlich ohne Metall aus. ccd.com.hk
 ??  ?? Wohnhaus in Cigliè, Italien In der Nähe der mittelalte­rlichen Stadt Cigliè ließ sich ein Rotterdame­r Ehepaar nieder und beauftragt­e das italienisc­he Studio Ata mit der Planung eines schönen, aber einfachen Sommerhäus­chens. Als Fassadenma­terial wählten die Architekte­n eine unsortiert­e Mischung, die dem Haus einen robusten, archaische­n Eindruck verleiht. studioata.com
Wohnhaus in Cigliè, Italien In der Nähe der mittelalte­rlichen Stadt Cigliè ließ sich ein Rotterdame­r Ehepaar nieder und beauftragt­e das italienisc­he Studio Ata mit der Planung eines schönen, aber einfachen Sommerhäus­chens. Als Fassadenma­terial wählten die Architekte­n eine unsortiert­e Mischung, die dem Haus einen robusten, archaische­n Eindruck verleiht. studioata.com
 ??  ?? Maya-Somaiya-Bibliothek, Indien 44 Meter Spannweite mit einer gerade einmal zehn Zentimeter dicken Kuppelscha­le? Ja, es ist möglich.
Der Beweis dafür steht im indischen Kopargaon und beherbergt eine Bibliothek für Kinder und Jugendlich­e. Das Gebäude wurde mithilfe eines Computermo­dellierung­s-Verfahrens entwickelt und bricht alle poetischen Rekorde. sp-arc.net
Maya-Somaiya-Bibliothek, Indien 44 Meter Spannweite mit einer gerade einmal zehn Zentimeter dicken Kuppelscha­le? Ja, es ist möglich. Der Beweis dafür steht im indischen Kopargaon und beherbergt eine Bibliothek für Kinder und Jugendlich­e. Das Gebäude wurde mithilfe eines Computermo­dellierung­s-Verfahrens entwickelt und bricht alle poetischen Rekorde. sp-arc.net
 ??  ?? Deutscher Textilverb­and, Münster
Die Weichheit eines harten Materials zeigt sich an der Nordfassad­e dieses ungewöhnli­chen Verwaltung­sbaus in Münster. Die Behet Bondzio Lin Architekte­n drehten einige der insgesamt 74.000 Ziegel aus der Achse und schufen auf diese Weise einen parametris­chen, scheinbar luftig leichten Faltenwurf. 2bxl.com
Deutscher Textilverb­and, Münster Die Weichheit eines harten Materials zeigt sich an der Nordfassad­e dieses ungewöhnli­chen Verwaltung­sbaus in Münster. Die Behet Bondzio Lin Architekte­n drehten einige der insgesamt 74.000 Ziegel aus der Achse und schufen auf diese Weise einen parametris­chen, scheinbar luftig leichten Faltenwurf. 2bxl.com
 ??  ?? 180 East 88th Street Tower, New York
Inspiriert von der Materialit­ät und den parabolisc­hen Bögen des spanischen Ausnahmekü­nstlers Antoni Gaudí errichtete­n die DDG Architects dieses Wohnhochha­us auf der Upper East Side aus knapp 600.000 Ziegeln. Neun der insgesamt 47 Wohnungen sind noch zu haben. Die Preise bewegen sich zwischen 1,3 und 16,8 Millionen US-Dollar. 180e88.com, ddgpartner­s.com
180 East 88th Street Tower, New York Inspiriert von der Materialit­ät und den parabolisc­hen Bögen des spanischen Ausnahmekü­nstlers Antoni Gaudí errichtete­n die DDG Architects dieses Wohnhochha­us auf der Upper East Side aus knapp 600.000 Ziegeln. Neun der insgesamt 47 Wohnungen sind noch zu haben. Die Preise bewegen sich zwischen 1,3 und 16,8 Millionen US-Dollar. 180e88.com, ddgpartner­s.com

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