ARTY WEEKEND
Ein langes Wochenende in der lebendigen Kulturszene von Riga.
Natürlich Wien, selbstverständlich Brüssel! Das würden wohl die meisten antworten auf die Frage, welches die Hauptstädte des Jugendstils sind. Aber, sorry, falsch geraten. Hier steht eine ganz andere europäische Stadt an erster Stelle: Riga. Beweis? Schon 1997 wurde die lettische Hauptstadt ins UNESCO-Weltkulturerbe eingetragen, insbesondere aufgrund ihrer bauhistorischen Schätze aus den Jahren 1904 bis 1914. Das Schicksal einer immer noch viel zu oft sträflich übersehenen Pracht teilt sich die mit 630.000 Einwohnern größte Stadt des Baltikums mit ihren Nachbarinnen Wilna und Tallinn.
Dabei wird hier auch vor, hinter und zwischen den Jugendstilfassaden einiges geboten. Jahrhunderte an der Schnittstelle zwischen Russland und dem Westen, zwischen den nordischen Ländern und dem Süden haben zu einer lebendigen und komplexen kulturellen Mischung geführt. Heute gibt es keine Entschuldigung mehr, Riga zu ignorieren: 2014 war man Europäische Kulturhauptstadt, und auch die Kunstwelt ist in der Stadt an der Mündung der Daugava zuhause, von stattlichen und staatlichen Museen bis zu anarchisch-fröhlichen Kollektiven. Also, mit nordischer Frische ans Werk, zum Kunst-Trip in eine wahrhaft europäische Kulturmetropole im Herz des Baltikums!
Eine Stadt wie ein Jugendstil-Erlebnispark, mittendrin ein kulturelles Schwergewicht und zum Abschluss Einblicke in die lettische Fotokunst.
Ehrensache, dass wir unser langes Wochenende mit dem Jugendstil beginnen – denn Rigas Jugendstilarchitektur konzentriert sich vor allem in den Stadtvierteln ums Zentrum, wir lernen dabei also gleich die Stadt flanierend kennen. Bis der Jugendstil hier zu musealen Ehren kam, sollte es allerdings gut 100 Jahre dauern. Nach langer Standortsuche eröffnete das Riga Art Nouveau Centre im Jahr 2009 in einem palastartigen Wohnhaus, das 1903 von Architekt Konstantīns Pēkšēns erbaut wurde. In dessen Räumen ist heute vor allem Kunsthandwerk aus jener Zeit zu sehen, von Textilien über Möbel und Keramik bis zu Druckwerken. Ein Echo einer lustvoll formverliebten Ära.
KULTURELLE KRONJUWELEN
Von hier zu einem noch beeindruckenderen Bau: dem Lettischen Nationalen Kunstmuseum. Hier werden die kulturellen Kronjuwelen des kleinen Staates aufbewahrt, mit Malereien und Skulpturen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Eine besondere Dauerausstellung ist der Ära von 1985 bis 2000 gewidmet, einer Zeit des Aufbruchs und des Wandels in der Kunstszene. Große Formate, NeoExpressionismus und politische Botschaften, aber auch grafische Abstraktionen prägten die Werke der damaligen AvantgardeKünstler.
Nach diesen beiden Schwergewichten etwas Leichteres: Die Galerie ISSP widmet sich exklusiv der Fotografie und schlägt dabei immer wieder Brücken zwischen lettischen und internationalen Künstlern. Wer ein Souvenir sucht, wird hier sicher fündig – die Galerie bietet ausgewählte Prints ihrer ausgestellten Fotografien als limitierte Editionen zum Kauf an.
RIGA ART NOUVEAU CENTRE Dauerausstellung jugendstils.riga.lv
LETTISCHES NATIONALES KUNSTMUSEUM Gustavs Šķilters (Eröffnung pandemiebedingt) lnmm.lv
ISSP GALLERY issp.lv
Wie jede Hafenstadt war auch die frühere Hansestadt Riga schon immer von Weltoffenheit geprägt. Eine Ahnung von der weiten Welt bietet das Museum in der Börse: Nicht nur durch seine hervorragend restaurierten Räume in einem Neorenaissance-Palast von 1855, sondern auch durch die Exponate, die vom ägyptischen Sarkophag über japanische und chinesische Kunst bis zu deutscher und österreichischer Malerei reichen. 2013 wurde das Museum Börse zu einem der acht besten neueröffneten Museen gewählt – zu Recht.
Ein weiterer Neuzugang der lebendigen Museumswelt ist das Zuzeum, die größte
Mehr Abwechslung geht kaum: vom NeorenaissancePalast über eine ehemalige Fabrik bis zum coolen OffSpace im Gewerbegebiet.
private Sammlung lettischer Kunst. Das Sammlerehepaar Dina und Jānis Zuzāns ist bereits seit über 20 Jahren aktiv in der Rigaer Kunstwelt engagiert, im September 2020 schließlich schenkten sie sich selbst und der Öffentlichkeit ihr eigenes Museum in einer ehemaligen Korkfabrik. Die Sammlung der beiden umfasst lettische Kunst vom Anfang des 20. Jahrhunderts und aus der Zeit des Sozialismus sowie weniger bekannte, aber kreativ-widerspenstige Künstler.
Kreativ und widerspenstig – das trifft definitiv auch auf das LOW zu. Als Kunstort jenseits aller Kategorien ist es Treffpunkt der jungen Szene von heute und auch optisch der Gegenpol zu Jugendstil und Nationalkunst: In einem alles andere als konventionell schönen, schwimmbadfarbenen Bau in einem räudigen Gewerbegebiet untergebracht, lässt das LOW die Ideen an den Rändern erblühen. Mit gut einem Dutzend Ausstellungen pro Jahr ist man hier enorm aktiv, es gibt also immer etwas zu sehen, wenn man sich auf dieses unbekannte Terrain wagt.
ART MUSEUM RIGA BÖRSE
»Voice of Glass. Collaborative« lnmm.lv/en/mmrb
ZUZEUM
Art Preview, bis 31. 12. 21 zuzeum.com
LOW low.gallery low.gallery/par-low/
Vom Rand in die Mitte, von der Gegenwart in die Vergangenheit – und zwar sehr, sehr weit. 820 Jahre alt ist die Stadt, nur drei Jahre jünger ist das Gemäuer der Kirche St. Georg. Heute wird sie nicht mehr als Kirche genutzt, seit 1989 ist hier das Museum für Dekorative Kunst und Design ansässig. Weitere Indizien auf der Suche nach der spezifisch lettischen Seele lassen sich hier aufspüren: die Ursprünge der Moderne in der Porzellanmalerei, die Anfang des 20. Jahrhunderts die Volkskunst mit Kubismus, abstrakter Geometrie fusionierte und mit neuen Technologien belebte. Nun ist es schon Sonntagmittag, und bislang fehlt noch ein Fixpunkt auf dem Programm: Wo ist das
Abstrakte Keramik in alten Mauern, beinahe ein Museum für zeitgenössische Kunst und eine charmante Arche im Hafen.
Museum für zeitgenössische Kunst? Gute Frage, denn ein solches gibt es bisher nicht in Riga. Wohl aber mehrere Annäherungen, insbesondere den Riga Art Space, der auf eine Künstlerinitiative zurückgeht. Auch hier laufen internationale Fäden zusammen und verknoten sich mit lokalem Engagement – zum Beispiel die Kooperation mit dem Daugavpils Mark Rothko Art Center, das sich dem in Lettland geborenen US-Künstler widmet.
ARCHE DER KUNST
Zum Abschluss etwas Entspannung beim Blick aufs Stadtpanorama: Am anderen
Ufer des Flusses thront auf einer schmalen Halbinsel am Hafen das NOASS, einer der etabliertesten und liebenswürdigsten Künstlertreffs. Gegründet in den 90er-Jahren, ist es bis heute eine Art »Freie Republik«, die nicht nur Kunst ausstellt, sondern auch Partys und Festivals veranstaltet – inzwischen mit eigener schwimmender Bühne –, eine Arche der Kunstfreiheit. Typisch Hafenstadt eben. <
MDAD lnmm.lv/mdad
RIGA ART SPACE
Mark Rothko: »GEO« (Eröffnung pandemiebedingt) makslastelpa.lv
NOASS noass.lv