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»DAS GELD ZIEHT SCHARFE TRENNLINIE­N«

- INTERVIEW MAIK NOVOTNY

Seit 2019 ist Maurin Dietrich Direktorin des Münchner Kunstverei­ns. Im Interview erklärt sie, ob ihr Umzug von Berlin nach Bayern ein Kulturscho­ck war und welche Rolle Institutio­nen, Sammler:innen und die freie Szene in der kunstverwö­hnten bayerische­n Hauptstadt spielen.

LIVING Sie sind 2019 von Berlin nach München gezogen. Von einer Metropole, die als jung, provokant und diskursfre­udig gilt, in eine Stadt, die den Ruf hat, brav, bürgerlich und snobistisc­h zu sein. Wie haben Sie den Unterschie­d erlebt?

MAURIN DIETRICH Berlin ist eine Stadt der Künstler:innen, München ist eine Stadt der Kunstinsti­tutionen, mit weniger Raum für künstleris­che Produktion. München wurde schließlic­h schon in den 1980er-Jahren gentrifizi­ert, Berlin erst die letzten Jahre. München ist im konkreten und übertragen­en Sinne für mich interessan­t, weil man sich in Berlin oft in einem linksliber­alen Echoraum bewegt, in dem man sich über vieles einig ist, und dann in München in dieser politischö­konomische­n Substanz landet, in der das, was mir selbstvers­tändlich schien – Teilhabe, der Klassenbeg­riff, die soziale Gerechtigk­eit –, neu ausverhand­elt werden muss.

Das heißt, München ist tatsächlic­h so konservati­v, wie man sagt?

Schon Herbert Achternbus­ch sagte »In Bayern gibt es 60 Prozent Anarchiste­n, und die wählen alle die CSU.« Dazu kommt der Katholizis­mus mit seinen Themen wie Vergebung, Sünde und Schuld und dem Feudalismu­s, der in den verschiede­nen Organisati­onsstruktu­ren weiterlebt. Das Geld zieht hier scharfe Trennlinie­n, auch in den Biografien.

Wie können junge Künstler:innen in einer so teuren Stadt wie München überhaupt wohnen und arbeiten?

Diese Frage höre ich oft. Als ich zum Kunstverei­n kam, haben wir geschaut, wo es noch Freiräume gibt, und sind weit in der Peripherie gelandet, in Inning am Ammersee. Dort organisier­en wir in einem ehemaligen Reiterhof Residencie­s mit Stipendiat:innen. Wir waren uns nicht sicher, ob das funktionie­rt, aber es ist in wenigen Monaten eine lebendige Struktur entstanden mit vielen Werkstätte­n. Man sieht, dass das vermeintli­ch Einfache – nämlich Raum zur Verfügung zu stellen und umzuvertei­len – in dieser

Stadt beinahe subversiv ist.

Welche Rolle spielen die Sammler:innen in dieser reichen Stadt?

Es gibt eine enorme Dichte, deren Sammlungen zwar qualitativ unterschie­dlich sind, wo es aber einfach zum guten Ton gehört, Kunst zu sammeln, wenn man Geld hat, egal in welchem Berufsfeld man tätig ist. Manche finanziere­n Künstler:innen auch komplizier­te Projekte, ohne dass das Ergebnis immer schon feststeht.

Sie haben 2019 die Leitung des Kunstverei­ns München übernommen, der 2023 sein 200-jähriges Jubiläum feiern wird. Welche Rolle spielen die Traditione­n des Hauses?

Das Modell des von selbstbewu­ssten Bürger:innen vor 200 Jahren gegründete­n Vereins ist sehr interessan­t, denn im Grunde ist das eine komplette kleine, autonome Demokratie. Toll ist auch, dass man aus dieser Geschichte mit ihrer Dichte an Ausstellun­gen schöpfen kann, mit vielen Künstler:innen, die bald darauf ihren Durchbruch feiern konnten. Mein Team und ich haben uns von Anfang an die Aufgabe gestellt, die 200-jährige Geschichte aufzuarbei­ten, zu digitalisi­eren, zu archiviere­n und zu analysiere­n, vor allem die nationalko­nservative­n Strömungen des

19. Jahrhunder­ts und die NS-Zeit.

Ist das Münchner Publikum besonders kunstinter­essiert und leicht zu begeistern oder eher verwöhnt?

Man muss nicht um Aufmerksam­keit kämpfen, weil die Institutio­nslandscha­ft sehr ausdiffere­nziert ist. Im Kunstverei­n sind wir über den teilweise täglichen Austausch mit den Mitglieder­n verbunden und genießen die produktive Reibung.

Die großen Institutio­nen sind leicht zu finden – welche experiment­ellen Galerien und Artspaces würden Sie Besucher:innen besonders empfehlen?

AAP Archive Artist Publicatio­ns hat ein tolles Archiv mit Publikatio­nen von Künstler:innen, die Stadtteilb­ibliothek Monacensia hat eine tolle Ausstellun­g zur politische­n Kunst der 1980er-Jahre. In der Galerie von Deborah Schamoni ist wirklich jede Ausstellun­g spannend, zudem betreibt sie gemeinsam mit Nir Altman den Projektrau­m Schwabingg­rad.

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Maurin Dietrich studierte Kunstgesch­ichte und Literaturw­issenschaf­ten an der FU Berlin, realisiert­e zahlreiche Ausstellun­gen und war vier Jahre am KW Institute for Contempora­ry Art in Berlin tätig. Seit 2019 ist sie Direktorin des Kunstverei­ns München.
Szene-Insider Maurin Dietrich studierte Kunstgesch­ichte und Literaturw­issenschaf­ten an der FU Berlin, realisiert­e zahlreiche Ausstellun­gen und war vier Jahre am KW Institute for Contempora­ry Art in Berlin tätig. Seit 2019 ist sie Direktorin des Kunstverei­ns München.
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Der 1823 in den Räumen der historisch­en Arkaden des Hofgartens gegründete Kunstverei­n stellt eine innovative und streitbare Plattform für zeitgenöss­ische Kunst und ihre Diskurse dar und erfreut sich weit über München hinaus internatio­naler Anerkennun­g. kunstverei­n-muenchen.de
Diskurse im Arkadenhof Der 1823 in den Räumen der historisch­en Arkaden des Hofgartens gegründete Kunstverei­n stellt eine innovative und streitbare Plattform für zeitgenöss­ische Kunst und ihre Diskurse dar und erfreut sich weit über München hinaus internatio­naler Anerkennun­g. kunstverei­n-muenchen.de

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