»WIR SIND NEUGIERIG UND REISEFREUDIG«
Portugal ist klein, aber weltoffen und freundlich. Davon profitiert auch die Kunst in der Stadt am Rande Europas. Kuratorin Luísa Santos erklärt, wie die Kunstszene in Lissabon von der Beliebtheit der Stadt profitiert, aber auch gefährdet wird.
LIVING Wie hat sich die Kunstszene in Lissabon in den letzten Jahren entwickelt?
LUÍSA SANTOS Lissabon ist sicher internationaler geworden, das zeigt sich auch in der zeitgenössischen Kunst. Vor 20 Jahren gab es kaum internationale Student:innen, heute sehr viele, was für einen großartigen Austausch von Ideen sorgt. Auch die Museen und Galerien sind internationaler geworden, aus zwei Gründen. Zum einen haben viele junge portugiesische Künstler:innen im Ausland studiert und gearbeitet und bringen ihre Kontakte mit zurück. Zum anderen bleiben viele internationale Student:innen hier, andere kommen aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen, weil Lissabon als sichere, leistbare Stadt mit hoher Lebensqualität gilt. Das stimmt zwar, aber mit dem Durchschnittsgehalt ist die Lebensqualität nicht leicht zu erreichen.
Welche Einflüsse prägen die portugiesische Kunst im Allgemeinen? Spielen die koloniale Vergangenheit und die Verbindung nach Brasilien eine Rolle? Wie auch die Geografie ist die Kunstszene klein und marginal. Aber das führt dazu, dass Künstler:innen neugierig, reisefreudig und gastfreundlich sind. Nur manchmal paart sich diese Neugier auf widersprüchliche Art mit einer Art Angst, die vielleicht koloniale Wurzeln hat. Die koloniale Geschichte und ihre Auswirkungen werden in Portugal immer noch gerne ignoriert, da gibt es noch viel zu tun, sowohl in der Kunst als auch an den Universitäten.
Neue Freiräume
Ausstellung im Art Space Appleton, einer der vielen neuen Galerien im Lissabonner Stadtviertel Alvalade.
Gibt es Stadtviertel, die als kulturelle Zentren gelten oder zu solchen geworden sind?
Arroios, Alvalade und Marvila wurden Kulturviertel, das hat die Stadt massiv verändert. Arroios war vor 20 Jahren ein Mittelklasseviertel fern jedes Trends, heute ist es voller CoworkingSpaces und Galerien. Alvalade wurde ebenfalls zu einem Schmelztiegel der Galerien, von kommerziellen bis zu avantgardistischen. Marvila war bis zur Expo 98 eine ländliche Gegend am Rande, heute gibt es Galerien in ehemaligen Industriehallen.
Bis vor wenigen Jahren gab es in Lissabon viel Leerstand, die Mieten waren billig. Inzwischen wurde die Stadt vom Immobilienmarkt entdeckt und rapide gentrifiziert. Hat das einen Einfluss auf die Kunst und ihre Freiräume?
Nach der Wirtschaftskrise 2008 haben sich Lissabon und Portugal dank des Tourismus langsam erholt, aber das hat auch internationale Investor:innen angezogen, die hier ohne Kredite leicht Wohnungen kaufen konnten. Die meisten leben gar nicht hier, sondern verdienen über die
Vermietung ehemaliger Familienwohnungen via Airbnb. Die Goldenen Visa zogen dann noch mehr Investment an. Dadurch wurden die Mieten für viele unbezahlbar; alte Menschen wurden aus ihrem Zuhause geworfen. Ja, das beeinflusst die Kunst sehr. Viele sind aus dem Zentrum an den Stadtrand gezogen, aber die Gentrifizierung folgt ihnen hinterher, und es gibt fast keine leistbaren Gegenden mehr. Inzwischen sind viele schon ganz aufs Land gezogen.
2018 gründeten Sie mit Ana Fabíola Maurício die kleine nanogaleria. Was war die Motivation? Damals besuchte ich meinen guten Freund Miguel Palma in seinem Atelier. Er hatte ein Fenster zur Straße und ich fragte ihn, warum er hier nicht seine Werke ausstellte. Er sagte: »Mach du das doch, das könnte eine Art Nanogalerie sein.« Also tat ich genau das. Die Galerie basiert auf einer endlosen Neugier auf menschliche, kulturelle und soziale Beziehungen. Zwei Jahre lang organisierten wir Ausstellungen und Performances, seit 2020 sind wir Nomaden und machen experimentelle Buchausstellungen namens nanoeditions.
Das Format ändert sich, aber das Ziel bleibt dasselbe: die Systeme der Welt hinterfragen.
Welche Museen und Galerien in Lissabon würden Sie Besucher:innen empfehlen?
Oh, es gibt so viele! Das MAAT hat gute Ausstellungen, und das AtelierMuseu Júlio Pomar ist ein echtes Juwel in der Altstadt. Bei den Galerien unter anderem Cristina Guerra, Múrias Centeno, Bruno Múrias, .insofar, Filomena Soares, Quadrum, 3+1, BeloGalsterer und Carlos Carvalho für Liebhaber:innen der Fotografie. Unter den nichtkommerziellen Orten Appleton, die Kunsthalle Lissabon und den HANGAR, der wichtige Arbeit bei der Dekolonialisierung leistet.