»MEINE KOMPASSNADEL IST AUF INTUITION AUSGERICHTET«
»Lehmbau ist nicht nur etwas für den ländlichen Raum. Es wäre großartig, so ein Gebäude auch mal inmitten von gläsernen Wolkenkratzern zu sehen.« ANNA HERINGER über Lehmbau in modernen Städten
Die bayerische Architektin Anna Heringer hat mit nur 30 Jahren den renommierten Aga Khan Award gewonnen. Seit damals schlägt ihr Herz für Lehmbau, Bambushäuser und nachhaltige soziale Initiativen, mit denen Frauen in Bangladesch ermächtigt und finanziell gestärkt werden können.
LIVING Vor einigen Jahren haben Sie in einem Dokumentarfilm unter dem Titel »Die
Zukunft ist besser als ihr Ruf« mitgewirkt. Welchen Ruf hat denn die Zukunft?
ANNA HERINGER Im Moment ist die Zukunft schon noch wolkig und bedeckt, aber ich bin eine sture Optimistin und Idealistin. Den Kopf in den Sand stecken bringt nichts. Wir müssen alle Kräfte mobilisieren. Und wenn ich mir Initiativen wie etwa »Fridays for Future« anschaue, dann wird meine Hoffnung bestätigt. In dieser Generation ist verdammt viel Energie drin, da bewegt sich schon was!
Seit vielen Jahren beschäftigen Sie sich mit modernen, zeitgenössischen Potenzialen des traditionellen Baustoffs Lehm. Wie kam es dazu?
Nach dem Abitur war ich ein Jahr lang in Bangladesch und habe dort mit einer lokalen NGO zusammengearbeitet. Es war sehr spannend, die Welt plötzlich aus einer anderen Perspektive zu sehen. Mich hat fasziniert, wie man in Bangladesch in lokalen materiellen geschlossenen Kreisläufen denkt, wie Dörfer aus Lehm und Bambus errichtet werden, die am Ende ihres Lebenszyklus verfallen und sich wieder der Mutter Erde zurückgeben. Das ist Nachhaltigkeit!
Klassische Entwicklungshilfeprojekte sind meist funktional. Schönheit spielt dabei keine Rolle.
Bei der klassischen Entwicklungshilfe handelt es sich meist um reine, wenig inspirierte Ingenieurbauten. Dann hört man Sätze wie: »Wer braucht schon Schönheit, wenn es
um das nackte Überleben geht?« Das ist für mich purer Zynismus. Auch Menschen in Armut sehnen sich nach Schönheit und Respekt – und das merkt man in Bangladesch beispielsweise bei den Möbeln, bei der Kleidung, beim Schmuck. Die Leute haben eine Leidenschaft für Gestaltung! Aus diesem Grund habe ich beschlossen, etwas verändern zu wollen und Schönheit und Funktionalität miteinander zu vereinen. Also habe ich begonnen, Architektur zu studieren.
Ihre Abschlussarbeit an der Kunstuniversität Linz war die METI School in Rudrapur, die Sie kurz darauf dann auch wirklich gebaut haben. Ich war damals schon oft in Rudrapur und wusste, dass die Bevölkerung dringend eine Schule benötigt. Ich war recht nervös und wusste damals noch nicht wirklich, wie man von Österreich aus einen guten Lehmbau für Bangladesch planen und entwickeln kann. Daher habe ich mich entschieden, mich über sämtliche regionale Bauvorschriften hinwegzusetzen und mich einzig und allein auf den Hausverstand und auf mein Bauchgefühl zu verlassen. Meine Kompassnadel war ausgerichtet auf Intuition.
2007 wurden Sie für das Projekt mit dem renommierten Aga Khan Award ausgezeichnet. Hatten Sie damit gerechnet? Überhaupt nicht! Ich hätte nicht gedacht, dass sich irgendwer dafür interessiert, was in einem abgelegenen Dorf in Bangladesch geschieht. Der Preis war eine absolute Überraschung für mich und letztendlich auch eine Bestätigung für mein Handeln. Aber: Ich war auch irgendwie schockiert – ich und Aga Khan Award! Und das im Alter von 30 Jahren! So ein mediales Echo und so eine Resonanz muss man erst einmal aushalten können.
Was hat sich seitdem in Ihrer Architekturpraxis verändert?
Viel. Mit dem Preisgeld des Aga Khan
Awards war ich in der Lage, meine nächsten Lehmbauprojekte zu finanzieren. Das wäre ohne den Preis mit Sicherheit viel schwieriger gewesen. Der Preis hat mein Vertrauen in die Materie gestärkt, er hat mich gelehrt, dass
»Im Moment ist die Zukunft schon noch wolkig und bedeckt, aber ich bin eine sture Optimistin und Idealistin.« ANNA HERINGER über ihre Sicht der Zukunft
sich das alles finanziell irgendwie ausgehen wird. Bis heute ist es so, dass ich für meine Projekte verhältnismäßig oft mit Preisen ausgezeichnet werde. Die Preisgelder sind eine wichtige Einkommensquelle für mich geworden. Mein Businesskonzept baut auf diesen Preisen und Auszeichnungen auf, da ich damit das jeweils nächste Projekt finanzieren und auf Schiene bringen kann.
Die große Besonderheit dieses Preises ist, dass er sich an Projekte und Bauleistungen in der arabischen und islamischen Welt richtet.
Nicht nur das! Als der Aga Khan Award 1977 ins Leben gerufen wurde, war er der erste Preis, der Architektur, Baukultur und die sozialen Auswirkungen auf die Bevölkerung gleichermaßen berücksichtigt hat. Es geht um den Social Impact.
Bleiben wir beim Thema: Im globalen Süden, aber auch bei uns in der sogenannten westlichen Welt gilt Lehm meist als Arme-Leute-Baustoff. Warum ist das so?
Weil uns das seit der Kolonialzeit so eingetrichtert wurde. Und auch die Missionarstätigkeit und Entwicklungsarbeit der letzten Jahrzehnte hat dieses Bild leider nur verstärkt, denn die meisten Entwicklungshilfeprojekte werden mit industrialisierten Materialien errichtet. In der Werbung ist immer nur von Stahl, Glas und Beton die Rede – nie von Lehm. Und sogar in Bollywood wird Lehm meist nur ins Bild gerückt, wenn es darum geht, Armut oder Vergangenheit zu visualisieren.
Wie kommt man da wieder raus?
Mit Bildung und Sensibilisierung. Mein größter Wunsch wäre es, für den BollywoodSchauspieler Shah Rukh Khan ein Lehmhaus zu bauen. So ein bekanntes Testimonial würde dem Baustoff Lehm eine tolle Imagekorrektur verpassen!
»Mein größter Wunsch wäre es, für den BollywoodSchauspieler Shah Rukh Khan ein Lehmhaus zu bauen.« ANNA HERINGER über Promotion von Lehmbauten
Auch in Österreich, Deutschland und der Schweiz kommt Lehm immer häufiger zum Einsatz. Von welchen Projekten sprechen wir da?
Im deutschsprachigen Raum ist die Renaissance des Baustoffs Lehm vor allem dem Vorarlberger Architekten Martin Rauch zu verdanken. Er war der Erste, der Häuser mit sichtbaren, unverputzten Stampflehmwänden gebaut hat. Wir arbeiten oft zusammen. Lehm ist oft im Wohn und Bürobau zu finden. Ich habe auch schon ein AyurvedaZentrum und einen Gebärraum in Lehm gebaut. Aktuell arbeite ich mit Romstätter Architekten an einem Forumsgebäude und Internat in Traunstein. Was ich mir noch wünschen würde: Lehmbau in die Schulen reinbringen! Gemeinsam mit den Kindern eine Lehmwand verputzen und mit Reliefs gestalten. Das wäre ein schönes pädagogisches
Projekt! Im Bereich Nahrung und Kleidung ist das Thema Klimaschutz und Nachhaltigkeit schon in der Gesellschaft angekommen. Nun geht es um die Architektur.
Eines Ihrer ungewöhnlichsten Projekte war die textile Installation unter dem Titel »This is not a shirt. This is a playground« auf der Architektur-Biennale 2018 in Venedig. Seit damals vertreiben Sie eine eigene Produktlinie unter dem Namen Dipdii Textiles. Was genau ist das?
Viele Frauen in Bangladesch werden im Zuge von Entwicklungshilfeprogrammen zu Näherinnen und Schneiderinnen ausgebildet. Das ist an sich toll, aber mittlerweile sind schon zu viele Frauen in diesem Beruf tätig. Das Angebot ist zu groß, die Nachfrage ist zu gering. Ich habe nun eine Initiative gestartet, bei der alte Saris und andere asiatische Kleidungsstücke für den westlichen Markt aufgepäppelt und umgenäht werden können – zu Kissen, Schals, Westen und Pullovern. Der Reinerlös fließt zur Gänze nach Bangladesch.
Gibt es ein Projekt, von dem Sie träumen?
Oh ja! Ich würde gerne ein Lehmhochhaus in Manhattan bauen. Lehmbau ist nicht nur etwas für den ländlichen Raum. Es wäre großartig, so ein Gebäude auch mal inmitten von gläsernen Wolkenkratzern zu sehen. <