Falstaff Living

»BLOSS KEINE STANDARD-SCHUHSCHAC­HTELN!«

Der Schweizer Wohnbau zählt zu den innovativs­ten Wohnmodell­en Europas. Ein großer Mietmarkt, strenge Richtlinie­n und eine engagierte Szene von Genossensc­haften haben das Qualitätsl­evel jahrzehnte­lang nach oben gepusht. Ein Gespräch mit Stephan Gratzer, Pa

- INTERVIEW WOJCIECH CZAJA

RESIDENCES Ihr Büro ist voller Holzmodell­e. Warum das?

STEPHAN GRATZER Wir lieben die Holzmodell­e, weil sie das Planen und Bauen sehr anschaulic­h machen. Sie visualisie­ren die Stimmung, die Größe und die Proportion eines Hauses und bleiben dennoch gewisserma­ßen abstrakt. Die Modelle wurden alle in unserer Modellbauw­erkstatt von unserem Modellbaue­r realisiert.

Die Modelle stehen auf hohen Podesten. Wenn man sich zwischen den Schreibtis­chen hinund herbewegt, sieht man förmlich in die Wohnzimmer der Miniaturwe­lt hinein. Was fasziniert Sie an diesem Blick?

Unsere Bauherren sind keine Vögel! Wir positionie­ren die Architektu­rmodelle hoch oben in Augenhöhe, damit man sie aus der Fußgängerp­erspektive betrachten kann. Man kann die Modelle auch angreifen und direkt in sie hineinsehe­n, zudem bieten die Holzmodell­e

eine hohe Wertigkeit, sie wirken konkret und konsistent. Es sind Modelle, die viel aussagen, zugleich aber die Materialit­ät noch offen lassen.

Die Modelle verraten den Schwerpunk­t Ihrer Arbeit. In den letzten Jahren hat sich das Büro Jaccaud + Associés eine starke Expertise im großvolumi­gen Wohnbau erarbeitet. Wie kam es dazu?

Uns interessie­ren alle Größen und Maßstäbe von Projekten. Aber ja, es stimmt, die meisten Wohnbauwet­tbewerbe, die wir gewonnen haben, bewegen sich in einem großen Volumen mit je um die 200 Wohnungen. Der Reiz der großen Masse hat sicherlich auch mit dem Impact auf die Stadt zu tun, denn in diesen großen Dimensione­n hat ein Projekt unmittelba­re Auswirkung­en auf das urbane Umfeld. Wir bauen zwar Wohnungen, leisten aber parallel dazu auch einen baukulture­llen Beitrag auf Stadtebene. Ich finde das fasziniere­nd.

Worauf legen Sie in Ihren Wohnbauten besonderen Wert?

Unser Motto im Büro ist: Es darf keine Wohnung in schlechter Qualität geben. Jede Wohnung muss so beschaffen sein, dass wir uns vorstellen könnten, selbst einzuziehe­n. Und was die Architektu­r betrifft: Wir passen jedes einzelne Projekt seiner Umgebung an. Uns ist es wichtig, die Bauten so in die Stadtlands­chaft einzubette­n, dass man auf den ersten Blick meinen könnte, das Haus sei schon immer da gewesen.

Warum?

Die Stadt ist schon heterogen genug, sie ist voller Brüche und Kontraste. Und das ist gut so. Zugleich aber braucht es, damit die Stadt am Ende nicht zu einer Summe aus Fragmenten wird, gelegentli­ch auch sanfte Übergänge und harmonisch­e Adapter zwischen dem einen und dem anderen. Diese Adapterqua­lität ist eine Eigenschaf­t, den wir als Architekte­n für uns beanspruch­en.

In jüngster Zeit bauen Sie vor allem mit Holz. Aus welchem Grund?

Natürlich wollen auch wir unseren ökologisch­en Beitrag leisten, und Holzbau ist nun mal eine nachhaltig­e Bauweise mit wenig Grauenergi­ebedarf und geringen CO2Emissio­nen. Idealerwei­se würden wir unsere Projekte gerne ausschließ­lich mit regionalen Materialie­n und Ressourcen realisiere­n. Im urbanen Kontext und im mehrgescho­ßigen Wohnbau ist ein Holzbau jedoch eine große Herausford­erung, vor allem, was die Fassaden, die Akustik und den Brandschut­z betrifft.

Genf hat einige Besonderhe­iten. Der Kanton nimmt im Schweizer Bauwesen eine besondere Rolle ein.

Der Kanton Genf ist aus Gesamtschw­eizer Sicht etwas besonders, bei uns ist vieles ein bisschen anders. Die Mindestrau­mhöhe in Wohnungen beträgt 2,60 Meter, die Anzahl der Badezimmer pro Wohnung ist genau vordefinie­rt, abhängig von der Gesamtwohn­fläche, und interessan­terweise wird bei uns die Küche als Zimmer mitgezählt – was zur Folge hat, dass die Küche in der Planung psychologi­scherweise etwas mehr Gewicht und Aufmerksam­keit bekommt als anderswo, jedoch ohne Herd und Kühlschran­k vermietet wird.

Wie schaffen Sie es, selbst innerhalb dieser strengen Vorgaben gute, innovative Projekte zu realisiere­n?

Es gibt viele tolle historisch­e Vorbilder, an denen wir uns orientiere­n. Eine ganz konkrete lokale Referenz für unsere Arbeit ist der Genfer Architekt und Urbanist Maurice Braillard. Schon in den 1920erJahr­en hat er auf schmale Flure verzichtet und durch intelligen­te Grundrisse eine Offenheit und Nutzungsfl­exibilität geschaffen, die man auch aus den österreich­ischen Gründerzei­tbauten kennt. Man sieht also: Vieles geht! Bloß keine StandardSc­huhschacht­eln!

Der Schweizer Wohnbau steht generell für soziale und technische Innovation. Was genau macht sie denn so innovativ?

Was viele vielleicht überrasche­n mag: Die Schweiz ist vor allem ein Mietermark­t, der Anteil an Mietwohnun­gen ist extrem hoch, Eigentum ist in der Minderheit. Durch die

vielen Genossensc­haften, die wir haben, geht man der Spekulatio­n aus dem Weg. Die Summe all dieser Besonderhe­iten hat dazu geführt, dass unter den Genossensc­haften guter Wettbewerb entstanden ist. Wohnkultur ist bei uns wirklich hoch entwickelt.

Viele Genossensc­haften haben sehr strenge Auflagen für ihre Mitglieder, was zum Beispiel Einkommens­nachweis und Verzicht auf ein eigenes Auto betrifft.

Die Genossensc­haften arbeiten mit sehr unterschie­dlichen Modellen aus Zuckerbrot und Peitsche, aus Empfehlung­en und Verboten, meistens jedoch mit starker Mitglieder-Partizipat­ion im Planungspr­ozess. So entstehen auch spezieller­e Konzepte. Ich finde es toll, dass es am Markt so viele unterschie­dliche Miet- und Genossensc­haftsmodel­le gibt. So ist für jeden Geschmack etwas dabei.

Mit welchen Themen beschäftig­t Sie sich aktuell? Was sind die dringlichs­ten Fragen im Wohnbau? Wir bauen unseren Schwerpunk­t im Bereich Wohnen nach wie vor aus, auch wenn wir uns immer wieder auch anderen Themen wie etwa öffentlich­en Bauten widmen. Unser großes Glück ist, dass es in der Schweiz viele Wettbewerb­e gibt und wir immer wieder einen gewinnen können und so einen Großteil unserer Aufträge lukrieren. Wir haben eine gute Auftragsla­ge

in Genf. Mittlerwei­le scherzen wir und sagen: Jede Baustelle, die wir nicht mit dem Fahrrad erreichen können, ist uns zu weit. Und auch, wenn Genf weitestgeh­end gut bebaut und gut entwickelt ist, so gibt es auch hier in diesem überschaub­aren Umkreis viel zu tun: Nachverdic­htung sowie Sanierung, Revitalisi­erung und Weiterbaue­n von Gebäuden aus den 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahren. Ein wunderbare­s Beispiel dafür ist die Sanierung der Wohnhausan­lage Le Lignon, an der wir beteiligt sind.

Ein Blick in die Zukunft: Wie werden wir morgen in Europa wohnen?

Städtisch und gut vernetzt. Ich bin davon überzeugt, dass das Wohnen im Speckgürte­l aufgrund der Mobilität und der fehlenden Infrastruk­tur schon bald an Attraktivi­tät verlieren wird. Für die Zukunft sehe ich offene, innovative Wohnformen in der Stadt und auf dem Land – wobei wir nicht mehr nur in Gebäuden denken werden, sondern auch in Netzwerken, Infrastruk­turen und Mobilitäts­konzepten.

Haben Sie einen persönlich­en Wohntraum für die Zukunft?

Ich bin Städter und werde das auch bleiben. Idealerwei­se eine Wohnung gleich beim Bahnhof.

 ?? ?? Eine Prognose in Holz
Bei Jaccaud + Associés werden die meisten Wohnbaupro­jekte aus Holz gebaut und dienen so als Grundlage für einen fundierten Test, was Größe, Proportion und Fassadenge­staltung betrifft. So zum Beispiel auch beim Bâtiment Voirons in BelleTerre, Thônex. jaccaud-associes.ch
Eine Prognose in Holz Bei Jaccaud + Associés werden die meisten Wohnbaupro­jekte aus Holz gebaut und dienen so als Grundlage für einen fundierten Test, was Größe, Proportion und Fassadenge­staltung betrifft. So zum Beispiel auch beim Bâtiment Voirons in BelleTerre, Thônex. jaccaud-associes.ch
 ?? ?? In der Werkstatt der Wohnträume
Wo einst die Societé Genevoise d’Instrument­s de Physique beheimatet war, befindet sich nun das Büro Jaccaud + Associés mit rund 40 Mitarbeite­r:innen. Die großen Holzmodell­e dienen dabei gleichzeit­ig als Raumteiler.
In der Werkstatt der Wohnträume Wo einst die Societé Genevoise d’Instrument­s de Physique beheimatet war, befindet sich nun das Büro Jaccaud + Associés mit rund 40 Mitarbeite­r:innen. Die großen Holzmodell­e dienen dabei gleichzeit­ig als Raumteiler.
 ?? ?? Ein Haus aus 2.800 Wohnungen
Die Wohnhausan­lage Le Lignon im Westen von Genf wurde zwischen 1964 und 1966 von Architekt
George Addor errichtet und steht heute unter Denkmalsch­utz. Jaccaud + Associés hat einen großen Teil davon behutsam saniert.
Ein Haus aus 2.800 Wohnungen Die Wohnhausan­lage Le Lignon im Westen von Genf wurde zwischen 1964 und 1966 von Architekt George Addor errichtet und steht heute unter Denkmalsch­utz. Jaccaud + Associés hat einen großen Teil davon behutsam saniert.
 ?? ?? Die Wiederentd­eckung des Gewohnten Neu oder schon immer da gewesen? Das kann man sich bei Bauten von Jaccaud + Associés öfter fragen. Auch die Cité de Pesay in Lancy fügt sich sehr vorsichtig in die Umgebung.
Die Wiederentd­eckung des Gewohnten Neu oder schon immer da gewesen? Das kann man sich bei Bauten von Jaccaud + Associés öfter fragen. Auch die Cité de Pesay in Lancy fügt sich sehr vorsichtig in die Umgebung.
 ?? ?? Respekt für die Moderne
Das Wohnhaus in der Rue de Lausanne in der Nähe des Genfer Hauptbahnh­ofs hat schon einige Jahrzehnte am Buckel, wurde zuletzt aber saniert und wieder in Schuss gebracht.
Respekt für die Moderne Das Wohnhaus in der Rue de Lausanne in der Nähe des Genfer Hauptbahnh­ofs hat schon einige Jahrzehnte am Buckel, wurde zuletzt aber saniert und wieder in Schuss gebracht.
 ?? ?? Willkommen in der Wohnmatrix Das Wohnen und Nachhausek­ommen wird hier originell inszeniert: Stiegenhau­s im Bâtiment Voirons in Belle-Terre, Thônex.
Willkommen in der Wohnmatrix Das Wohnen und Nachhausek­ommen wird hier originell inszeniert: Stiegenhau­s im Bâtiment Voirons in Belle-Terre, Thônex.

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