ESSAY: DIE ZUKUNFT KANN NOCH BESSER WERDEN
Ein Blick voraus auf Post-covid-zeiten
Mit dem Fortschreiten der Covid-impfkampagne wächst die Hoffnung, die Schönheiten dieser Welt im kommenden Sommer wieder unbeschwert genießen zu können. »So wie früher« wird das Post-corona-zeitalter allerdings wohl nicht werden, sondern vielleicht sogar noch schöner – bietet es doch die Chance für einen neuen Blick auf die beste aller möglichen Welten.
Vorerst ist es noch ein blasser Hoffnungsschimmer. Doch mit dem Beginn einer globalen Impfkampagne bietet sich zum ersten Mal, seit das Coronavirus die Welt usurpierte, eine Perspektive, wie die Erdenbewohner diesen Ausnahmezustand hinter sich lassen könnten.
Abseits der Todesfälle und schweren Krankheitsverläufe infolge der Pandemie war eine der schlimmsten Folgen von Anfang an die Ungewissheit, die die Gesellschaften lähmte. Niemand wusste, welche Wendung die Seuche nehmen würde. Es war – und ist noch immer – ein Leben im Jo-jo-modus. Mal mehr, mal weniger Bewegungsspielraum. Nach dem Ausbruch von Corona hatten Gesundheitsbehörden im demokratischen Westen ihre Handlungsfähigkeit rasch eingebüßt – und ihr Spielraum verengte sich immer mehr. Die drakonischen Methoden, zu denen Behörden etwa in China griffen, stehen ja im Europa der liberalen Demokratien keinem Staat zur Verfügung, eine »Corona-diktatur«, wie sie einige verhaltensauffällige Lautschreier heraufbeschwören, ist weit und breit nicht auszumachen. Davor bewahren starke Verfassungen, welche den Einzelnen und nicht das Kollektiv ins Zentrum stellen. Das aber behindert die reaktiven Möglichkeiten.
Es wird zu den großen Herausforderungen in der Zeit nach Bewältigung der Krise gehören, die bürgerlichen Freiheiten nicht aufzuweichen, etwa weil sie den Kampf gegen Corona erschwert hätten. Ganz im Gegenteil: Auch in dieser Extremsituation bewährt sich das Equilibrium aus Sicherheitsund Freiheitsbedürfnissen.
Jetzt, in der ersten Impfwelle, verläuft das individuelle und öffentliche Leben immer noch in Zeitlupe. Niemand weiß, welche Vakzine die Krankheitsverläufe erheblich abschwächen oder vielleicht sogar gänzlich immunisieren. Unklar ist auch, wie viel Prozent der Bevölkerung geimpft sein müssen, damit das Seuchengeschehen zum Erliegen kommt. Es braucht also weiterhin Geduld und Durchhaltevermögen.
NORMALITÄT IST IMMER STETEM WANDEL UNTERWORFEN.
DANACH IST NICHT DAVOR
Dennoch ist Land in Sicht. Ob es bereits im Sommer oder später erreicht sein wird, ist zwar weiterhin ungewiss, doch selbst skeptische Experten ziehen nicht in Zweifel, dass die Gesellschaften auf eine Post-corona-ära zusteuern, in der es wieder möglich sein wird, die Schönheit der Welt und die Früchte der Erde unbeschwert zu genießen. Ja, ein Sommer wie damals, die Feste wie früher, all das ist in Sicht. Aber eben doch nicht so ganz wie damals. Die Pandemie traf die Länder unvorbereitet, sie mussten improvisieren, mitunter auch panisch zu Werke gehen. Für die neue Phase nach der Seuche wäre nun allerdings genug Zeit vorauszuplanen.
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass »nachher« alles wieder so laufen wird wie »vorher«. Wenn eine Gesellschaft über ein Jahr im Belagerungszustand verbringt, hinterlässt das tiefe Spuren ökonomischer und sozialer Natur. Die Coronazeit hat etwa ein weiteres Mal unter Beweis gestellt, dass der europäische Wohlfahrtsstaat ein Erfolgsmodell ist. Daher wird sicher diskutiert werden, ob die Hilfestellungen des Staates wieder auf Vorseuchenniveau zurückgefahren werden sollen, oder ob im Gegensatz dazu Elemente dessen beibehalten werden sollen, was in der Schweiz verächtlich »Seuchensozialismus« genannt wird, vielen im Kulturbereich und Kleingewerbe aber erst das Überleben ermöglichte.
Natürlich werden sich viele Bereiche des Lebens normalisieren. Doch alle Normalität – der Begriff ist in den vergangenen Monaten sträflich häufig missbraucht worden – ist immer nur Momentaufnahme und stetem Wandel unterworfen. Was früher normal war, kann morgen schon außergewöhnlich sein. Das sollten spätestens die digitalen Umwälzungen gelehrt haben. Normalität hat viel mit Gewohnheiten zu tun, die sich schleichend verändern, ohne dass es groß auffiele. Erst ein Spontanereignis von Coronadimension macht den Bruch zwischen alter und neuer Normalität bewusst.
Wie sehr alte Gewohnheiten zurückkehren, lässt sich besonders gut am künftigen Konsumverhalten ablesen. Wird dann wieder der Überfluss so ausgiebig zelebriert wie zuvor, wird ausschweifende Partylaune gänzlich unbeschwert auferstehen? Eine Lehre, die eine Gesellschaft aus der Pandemie gezogen haben könnte, wäre die Einsicht, dass nicht alles, was möglich ist, auch erstrebenswert ist. Es könnte auch gut sein, dass bald der antike griechische Philosoph Epikur der »Mann der Stunde« sein wird. Die Schule der Epikureer erklärte die Lust zum höchsten Gut – allerdings bestand diese nicht aus der Befriedigung aller Begierden, sondern aus Schmerzlosigkeit und innerem Frieden als dauerhaftem Zustand. Eine Idee, die der Post-coronaära einen durchaus neuen Twist geben könnte.
In seinem Roman »Eine Messe für die Stadt Arras« erzählt der große polnische Schriftsteller Andrzej Szczypiorski von der französischen Stadt, die im Mittelalter ein Jahr lang von der Beulenpest belagert und in den kollektiven Wahnsinn getrieben wurde. »Wenn ich in der Zeit ihrer Tollheit aus der Stadt Arras fortgegangen wäre, hätte ich nur meinen Verstand gerettet«, heißt es am Ende des Berichts, nachdem alles vorbei ist und ein Fünftel der Stadtbevölkerung dahingerafft wurde. »Dadurch, dass ich erst jetzt, nach all dem Unbegreiflichen, fortgegangen bin, habe ich mir ein Fünkchen Glauben bewahrt. Nicht viel, aber es reicht als eine Anleihe auf die beste aller Welten.«
Die beste aller Welten – noch immer eine Utopie, die erst erobert sein will. <