Falstaff Magazine (Austria)

Austern als verkannte Ökosamarit­er, in New York und auf jedem Teller.

- TEXT ANGELIKA AHRENS

Überfischu­ng und Umweltvers­chmutzung hatten die Auster in der einstigen »Austern-welthaupts­tadt« New York längst ausgerotte­t. Doch dank findiger Ideen und engagierte­r Bürger ist sie nun zurückgeke­hrt – und macht die Unterwasse­rwelt rund um die Millionen-metropole jeden Tag ein Stück besser.

Die Bucht des heutigen New Yorker Hafens war in früheren Tagen vor allem ein Paradies für Austern. Man könnte sogar sagen: New York war einmal die Welthaupts­tadt der Auster. Doch dann kam die Besiedelun­g, die Stadt wuchs, der Hafen wurde ausgebaut zu einem der größten der Welt und die Auster wurde verdrängt. Doch jetzt soll sie zurückkehr­en in die Wasser rund um die Millionenm­etropole. Eine Initiative namens »Billion Oyster Project« treibt die Wiederansi­edlung von Austernrif­fen voran, welche nicht nur die Wasserqual­ität verbessern, sondern auch die Küste vor Stürmen schützen sollen.

Dass die wilden Austern überhaupt wieder gedeihen, ist ein Zeichen dafür, dass sich die Wasserqual­ität in einem der meistgenut­zten Häfen der Welt sukzessive verbessert.

DIE STRUKTUR DER AUSTERNSCH­ALEN BERUHIGT DAS WASSER, HILFT DABEI, WELLEN ZU BRECHEN UND KANN SO VOR STURMFLUTE­N SCHÜTZEN.

INSEL MIT GESCHICHTE

Nebel dick wie Erbsensupp­e hüllt Downtown Manhattan ein. Es ist einer dieser Tage, an dem die Freiheitss­tatue von der Bildfläche verschwund­en zu sein scheint und die Brooklyn Bridge sich nur schemenhaf­t vom Wasser abhebt. Alle paar Minuten tuten die Nebelhörne­r der vorbeizieh­enden Schiffe: tief, langgezoge­n, langsam. Die »Coursen« ist eine jener Fähren, die vom Südzipfel Manhattans ablegt. Ihr Ziel ist Governors Island, eine 70 Hektar große Insel vis-à-vis der Freiheitss­tatue – und eine kleine Welt für sich. Governors Island war einst ein Fischereip­latz der indigenen Ureinwohne­r, später Armee- und Marine-stützpunkt. Heute ist sie ein beliebtes Freizeitar­eal. Tausende New Yorker kommen jedes Wochenende zum Radfahren oder picknicken – und seit einiger Zeit auch, um

beim »Billion Oyster Project« freiwillig mit Hand anzulegen. Ein Projekt, bei dem hier bis zum Jahr 2035 eine Milliarde (= »One Billion«) Austern angesiedel­t werden sollen.

Hinter den historisch­en Offiziersg­ebäuden mit ihren alten Kanonen türmen sich Berge von Austernsch­alen. Diese stammen von den vielen Seafood-restaurant­s in der City. Darin werden Austernlar­ven gezüchtet und anschließe­nd im Hafenbecke­n ausgesetzt, um die Bestände aufzufrisc­hen.

»Wir wollen die ursprüngli­che Landschaft, wie sie einst im Hafen von New York zu finden war, wiederhers­tellen und den Leuten Nachhaltig­keit und Umweltschu­tz nahebringe­n«, erklärt Pete Malinowski, Direktor des »Billion Oyster Project«: »Denn riesige Austernrif­fe, die sich über Tausende von Jahren entwickelt haben, schützten einst die Küste von New York.«

D AS NEW YORKER HAFENBECKE­N WAR EINST EINES DER VIELFÄLTIG­STEN UND DYNAMISCHS­TEN ÖKOSYSTEME DER ERDE.

Auch wenn es heute kaum mehr vorstellba­r scheint: »Man musste nicht weit ins flache Wasser gehen, um Austern wie reife Früchte zu pflücken«, schreibt Mark Kurlansky in seinem

Buch »The Big Oyster: History on the Half Shell«. Ellis Island (wo früher die Immigrante­n registrier­t worden sind) und Liberty Island (wo heute die Freiheitss­tatue steht) hießen in Kolonialze­iten noch »kleine und große Austernins­el«.

GIGANTISCH­E AUSTERNBÄN­KE

Im fruchtbare­n Wasser-mix aus Hudson River und Atlantik gab es immer schon gewaltige Austernbän­ke. Als Henry Hudson im Jahre 1609 hier ankam, navigierte er seinen Dreimaster durch 900 Quadratkil­ometer große Austernbän­ke – eine Fläche, mehr als doppelt so groß wie Wien. Der New Yorker Hafen war sehr lange Zeit eine der biologisch produktivs­ten, vielfältig­sten und dynamischs­ten Unterwasse­rwelten an der Ostküste der USA. Es gab hier so viele Austern, dass man sogar eine Straße im Financial District an der Südspitze Manhattans danach benannte: die Pearl Street.

Diese heutige Spezialitä­t war dabei seinerzeit längst nicht nur ein Essen für reiche Leute, sondern auch für die Armen. Straßenhän­dler grillten an jeder Ecke Austern, wo heute Hot Dogs angeboten werden. Und Millionen Stück wurden exportiert. Doch Anfang des 20. Jahrhunder­ts war Schluss mit dem Überfluss: Die Austern von New York waren aufgegesse­n. Der stetig wachsende Industriem­üll, Abwässer und Krankheite­n waren für deren Überleben ebenfalls nicht gerade förderlich. Manhattan wuchs in die Breite und in die Höhe. Sumpfig-steinige Ufer, die für Austern einst ein ideales Zuhause waren, mussten Schottwänd­en und Piers weichen.

Aber nicht nur in New York, weltweit sind die natürliche­n Austernvor­kommen vielerorts dramatisch geschrumpf­t. Dabei sind Austern so etwas wie die Ingenieure des Ökosystems. Eine durchschni­ttliche Auster filtert und reinigt über ihre Kiemen mindestens 200 Liter Wasser pro Tag, oft sind es noch mehr. Zum Vergleich: Eine Badewanne fasst etwa 150 bis 180 Liter. Sie sind damit die Nieren des Meeres, entfernen Gifte, Schadstoff­e und Krankheits­erreger. Das Wasser wird klarer, es fällt mehr Licht auf den Meeresbode­n.

Durch neue Gesetze zur Verbesseru­ng der Wasserqual­ität ist das Hafenwasse­r in New York in den letzten Jahrzehnte­n sukzessive sauberer geworden. Zumindest so weit, dass gezüchtete Austern ausgesetzt werden und überleben können. Das ist der Grundstein für das »Billion Oyster Project«.

D IE LEEREN SCHALEN ALLER ARTEN VON MUSCHELN AUS NEW YORKS RESTAURANT­S WERDEN ZUM NEUEN ZUHAUSE FÜR DIE WILDEN AUSTERN.

GOURMETS ALS VERBÜNDETE

Die Schalen für die Babyauster­n liefern, wie bereits gesagt, New Yorker Restaurant­s. »Vor der Pandemie haben wir von 80 Lokalen die Austernsch­alen bekommen, sechs Mal die Woche wurden sie abgeholt. Derzeit fährt unser Truck nur ein Mal pro Woche zu zwölf Restaurant­s«, so Projektlei­ter Malinowski. Aber auch wenn derzeit weniger Muschelsch­alen gesammelt werden, lagern auf Governors Island derzeit etwa 500 Tonnen. »Sie liegen zunächst ein Jahr lang hier und werden von Wind und Wetter gereinigt«, erklärt Malinowski. »Denn wir wollen ja keine Krankheits­erreger auf unsere Jungtiere übertragen.« Hier finden sich hauptsächl­ich Austernsch­alen von Tieren, die von der Ostküste stammen. Aber auch welche von der Westküste sowie Jakobsmusc­heln und Venusmusch­eln sind darunter. Schätzunge­n zufolge wurden vor Covid in New York pro Woche eine halbe Million Muscheln verzehrt. Und den Austernlar­ven ist es herzlich egal, welche Muschel ihr neues Zuhause ist. Sie

brauchen nur eine passende Oberfläche, an der sie andocken können. Hauptsache, diese ist reich an Calciumcar­bonat.

Das 30-köpfige Team des »Billion Oyster Project« befruchtet im Labor zunächst Keimzellen in Wassertank­s. Die dabei entstehend­en Larven werden mit Algenkultu­ren versorgt und nach zwei bis drei Wochen in Tanks zu den Restaurant-schalen gesetzt. Das »Andocken« gelingt in bis zu 40 Prozent der Fälle.

Seit dem Start des Projekts 2014 konnten so schon 50 Millionen Austern in kleinen Säcken oder schwimmend­en Metallkäfi­gen im Hafen von New York ausgesetzt werden. Und die Wasserqual­ität hat sich dadurch offenbar bereits weiter verbessert. Denn vor Kurzem wurden große Vorkommen wilder Austern an Brückenpfe­ilern gefunden. Malinowski: »Wir haben Tausende von Austern pro Quadratmet­er gezählt – gewaltig!«

NATÜRLICHE WELLENBREC­HER

Aber können Austernrif­fe, wie erhofft, die gut 800 Kilometer Küstenlini­e von New York tatsächlic­h vor künftigen Stürmen und Hurrikans schützen? »Die Riffe können die Wellen brechen, bevor sie auf Land treffen und so Schäden mindern«, so Malinowski. Das funktionie­rt aber vor allem an flachen Küstenstri­chen wie etwa Jamaica Bay in Brooklyn. »Im unteren Teil von Manhattan ist das Wasser nicht flach genug. Man würde ein riesiges Austernrif­f benötigen, zwölf Meter von Grund auf«, erklärt Malinowski. Aber bei einem weiteren Projektabs­chnitt, der den Stadtteil Staten Island schützen soll, würden die gezüchtete­n Riffe bereits eine Rolle spielen. Für Feinschmec­ker ist die Initiative aber jedenfalls eine Aufforderu­ng, mehr Austern zu konsumiere­n – mit winzigen Abstrichen: »Wenn man in Austernfar­men gezüchtete Tiere verzehrt, belastet man damit nicht die Umwelt und tut seinem Körper Gutes«, erklärt Projektlei­ter Pete Malinowski. Die jungen, vor Manhattan neu gezüchtete­n Austern seien hingegen nicht essbar – das Wasser rund um die Millionenm­etropole ist nach wie vor schlicht zu schmutzig, was die Austern ungenießba­r mache. Es wird also wohl doch noch einige Zeit dauern, bis wieder fliegende Austernhän­dler die New Yorker Straßen bevölkern. <

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 ??  ?? Nicht nur kulinarisc­h, sondern auch in ökologisch­er Hinsicht hat die Auster eine Sonderstel­lung unter den Muscheln: Jede Auster filtert und säubert Hunderte Liter Wasser pro Tag.
Nicht nur kulinarisc­h, sondern auch in ökologisch­er Hinsicht hat die Auster eine Sonderstel­lung unter den Muscheln: Jede Auster filtert und säubert Hunderte Liter Wasser pro Tag.
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Land gehen konnte.
Als Henry Hudson im Jahr 1609 das heutige New York anlief, musste er sein Schiff durch 900 Quadratkil­ometer große Austernkol­onien navigieren, ehe er an Land gehen konnte.
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Bis Anfang des 20. Jahrhunder­ts prägte das vor der Stadt geerntete Seafood als billiger Imbiss für alle auch das Straßenbil­d New Yorks.
 ??  ?? Lebendiger Umweltschu­tz: Schätzunge­n zufolge haben die Austern seit dem Beginn des Projekts im Jahr 2014 bereits über 3000 Tonnen Stickstoff aus dem Wasser gefiltert.
Lebendiger Umweltschu­tz: Schätzunge­n zufolge haben die Austern seit dem Beginn des Projekts im Jahr 2014 bereits über 3000 Tonnen Stickstoff aus dem Wasser gefiltert.
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Das »Billion Oyster Project« ist seit dem Beginn eine reine Bürgerinit­iative, auch wenn Stadt und Staat inzwischen finanziell­e Schützenhi­lfe leisten.
 ??  ?? Tonnen von Muschelsch­alen aus New Yorker Restaurant­s lagern auf Governors Island. Während die Natur ihre Säuberung übernimmt, warten diese auf ihren Einsatz bei der Rekultivie­rung der Austernbän­ke vor New York.
Tonnen von Muschelsch­alen aus New Yorker Restaurant­s lagern auf Governors Island. Während die Natur ihre Säuberung übernimmt, warten diese auf ihren Einsatz bei der Rekultivie­rung der Austernbän­ke vor New York.
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Der ökologisch­e Erfolg entlohnt die freiwillig­en Helfer für die Mühen der Handarbeit.
In Säcken oder Käfigen wird die Austern-saat – mit alten Muschelsch­alen als Basis – versenkt. Der ökologisch­e Erfolg entlohnt die freiwillig­en Helfer für die Mühen der Handarbeit.
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Die ehemalige Orf-starmodera­torin lebt seit vielen Jahren mit ihrem Ehemann, dem Küchenchef Kurt Gutenbrunn­er, in New York und arbeitet als freie Journalist­in.
ANGELIKA AHRENS Die ehemalige Orf-starmodera­torin lebt seit vielen Jahren mit ihrem Ehemann, dem Küchenchef Kurt Gutenbrunn­er, in New York und arbeitet als freie Journalist­in.

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