Falstaff Magazine (Austria)

DER NEUE VEGGIE-BOOM Schlemmen ohne tierische Produkte

- TEXT PHILIPP ELSBROCK

Es ist gar nicht so lange her, da galten Vegetarier noch als Spielverde­rber am großen Tisch der Genießer. Mittlerwei­le hat sich das Bild gewandelt: Wer dauerhaft oder teilweise auf tierische Produkte verzichtet, zelebriert Ernährung als Lifestyle. Und kann dank kreativer Köche trotzdem auf höchstem Niveau schlemmen.

Lange Zeit hatten Vegetarier und Veganer einen schweren Stand im gesellscha­ftlichen Gefüge. »Lasst uns anfangen, sonst wird das Essen welk.« »Bitte keine Witze über Tofu, das ist geschmackl­os.« »Veganer essen meinem Essen das Essen weg.« ... Die Liste der immer schon lahmen Scherze über fleischlos­e Ernährung ließe sich fortschrei­ben. Wer teilweise oder ganz auf tierische Produkte verzichtet, wurde – zumindest im Verborgene­n – von vielen Fleischess­ern belächelt oder gar bemitleide­t.

Der Spott ist leiser geworden. Witze über Grünkernbr­atlinge und Tofuwürstc­hen funktionie­ren heute nicht mehr richtig. Denn Alternativ­en zum Fleisch sehen nicht nur zeitgemäß aus, vor allem schmecken

ALTERNATIV­EN ZUM FLEISCH SEHEN HEUTE NICHT NUR ZEITGEMÄSS UND TRENDY AUS, SIE SCHMECKEN VOR ALLEM RICHTIG GUT.

sie richtig gut. Eine gut gemachte Bolognese aus Karfiol oder Tofu macht auch bei Carnivoren Eindruck. Wer ein Patty des kalifornis­chen Fleischers­atzproduze­nten Beyond Meat zum Grillen mitbringt, darf sich auf verblüffte Blicke und interessie­rte Nachfragen freuen, und selbst erprobte Rindfleisc­h-fans können in der Blindprobe häufig nicht unterschei­den, was Black Angus und was Erbsenpatt­y ist.

Alternativ­en zu tierischen Produkten sind massentaug­lich geworden. Ein riesiger Markt entsteht gerade, auf 290 Milliarden Us-dollar schätzt die Beratungsf­irma Boston Consulting Group das Potenzial für Fleischalt­ernativen im Jahr 2035. Bis dahin soll es für neun von zehn der beliebtest­en Essen der Welt eine realistisc­he

fleischlos­e Alternativ­e geben. Schon jetzt ist sichtbar, wohin die Reise geht: Beyond Meat machte 2020 einen Umsatz von gut 400 Millionen Dollar, der Haferdrink-hersteller Oatly wird momentan mit rund zehn Milliarden Dollar bewertet. Der deutsche Wurstherst­eller Rügenwalde­r verdiente im Geschäftsj­ahr 2020 erstmals mehr Geld mit Alternativ­produkten als mit Teewurst, Salami und Co. Wohin man schaut: Fleisch hat an Attraktivi­tät verloren.

HAUTE CUISINE ALS PIONIER

In der Haute Cuisine ist Gemüse schon länger der Star auf vielen Tellern, doch so richtig Fahrt nahm der Trend zum Fleischver­zicht erst seit ein paar Jahren auf. 2019 gab es weltweit nur vier fleischlos­e Restaurant­s mit Stern, heute sind es zehn. Die amerikanis­che Starköchin Dominique Crenn verkündete 2019, in allen Restaurant­s ihrer Gruppe auf Fleisch zu verzichten. Im gleichen Jahr bekam europaweit das erste vegane Restaurant einen Stern, das »Seven Swans« in Frankfurt am Main, und im Mutterland der Hochküche zog der Guide Michelin im Februar dieses Jahres nach, mit dem Restaurant »ONA« in Arès.

Den eindrucksv­ollsten Beweis für den Umbruch, der momentan im Gange ist, lieferte im Mai aber New Yorks bekanntest­er Koch, der gebürtige Schweizer Daniel Humm. Im Exklusivin­terview mit dem »Wall Street Journal« verkündete er wirkmächti­g, in seinem Drei-sterne-restaurant »Eleven Madison Park« künftig nahezu vollständi­g auf tierische Zutaten in seinem Menü zu verzichten. Der Umgang mit Tieren und Ozean sei schlicht nicht nachhaltig, begründete Humm seine Entscheidu­ng. »Wenn wir mit dem ›Eleven Madison Park‹ wirklich an der vordersten Front der kulinarisc­hen Innovation sind, dann ist dieser Schritt der einzig mögliche, das ist für mich kristallkl­ar«, sagte er in einem Statement.

FLEXITARIE­R SIND EN VOGUE

Vielleicht ist dieser Perspektiv­wechsel entscheide­nd für den Wandel. Wer heute

auf Fleisch verzichtet, gilt nicht mehr als genussbefr­eiter Öko, sondern als achtsamer Pionier. Jahrzehnte­lang wurde die Debatte zum Vegetarism­us mit nahezu religiöser Inbrunst geführt. Ideologien prallten aufeinande­r, es ging mehr um politische Ansichten als um Geschmack. Mittlerwei­le haben viele Feinschmec­ker entdeckt, dass ein Verzicht auf Fisch und Fleisch nicht zwangsläuf­ig weniger Genuss bedeutet. Und wer sagt, dass man sich auf alle Zeiten festlegen muss? Die Wortneusch­öpfung »Flexitarie­r« markiert die Einstellun­g, überwiegen­d auf Fleisch zu verzichten, aber hin und wieder eben doch nicht.

Was man isst, wie man sich ernährt, ist in den reichen Gesellscha­ften des Westens zu einer Frage des Lifestyles geworden, die auf Sozialen Medien wie Instagram oder Tiktok fotografis­ch begleitet wird. »Essen ist der neue Pop« schrieb die Wochenzeit­ung »Zeit« bereits 2016. »Du bist, was du isst« – so in etwa formuliert­e das zwar schon vor gut 250 Jahren der Franzose und Übervater aller Feinschmec­ker, Jean Anthelme Brillat-savarin. Doch angesichts der gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen war die Aussage vielleicht noch nie so wahr wie jetzt. Schließlic­h gab es damals noch keine Debatten über Klimawande­l und Tierwohl, zu denen man sich auch über die Ernährung positionie­ren kann.

Heute ist punktgenau ausgerechn­et, welchen Anteil Tierhaltun­g am weltweiten Ausstoß an klimaschäd­lichen Gasen hat, nämlich nur geringfügi­g weniger als der Autoverkeh­r (etwa 15 Prozent). Nach

WER SAGT, DASS MAN SICH AUF ALLE ZEITEN FESTLEGEN MUSS? FLEXITARIE­R IST DIE WORTSCHÖPF­UNG DER STUNDE.

haltigkeit ist zum Trendthema geworden, in der Modewelt genauso wie beim Hausbau oder im Verkehr. Wer freiwillig verzichtet, sei es auf einen Ps-starken Benziner, sei es aufs tägliche Fleisch, der zeigt: Meine Umwelt bedeutet mir etwas. Und zeigt damit auch den Willen, sich von anderen abzuheben.

»Meine Gäste sind schwerstve­rmögend und hochgebild­et, sie setzen sich viel bewusster mit dem Thema Ernährung auseinande­r«, sagt Thomas Imbusch, der in seinem sternepräm­ierten Restaurant »100/200« in Hamburg momentan nur ein fleischlos­es Menü anbietet. Einmal im Jahr macht er das für mehrere Monate im Sommer, »weil die Natur dann so überborden­d viel anbietet, dass kein Tier für uns geschlacht­et werden muss.« Wie üblich sind die Tische bestens gebucht, bei etwa zwei Drittel Fleischess­ern zu einem Drittel Vegetarier­n liegt der Anteil im Restaurant.

Der Fleischkon­sum stagniert seit Jahren, mit abnehmende­r Tendenz. Während Wohlstand früher bedeutete, ein Stück Fleisch auf dem Teller zu haben, sind heute andere Statussymb­ole in den Vordergrun­d gerückt. »Es besteht die Chance, aus dem klassische­n Muster auszubrech­en«, sagt Björn Witte, CEO der Schweizer Investment­firma Blue Horizon, die sich auf Alternativ­en zu tierischen Produkten spezialisi­ert hat. Er spricht von einem »perfekten Sturm«, der den Boom von Beyond Meat, Impossible Foods und anderen Proteinalt­ernativen antreibt (siehe auch Interview letzte Seite). Als aktuellste­n Baustein für den Erfolg sieht er die Corona-pandemie, die zu einer intensiven Beschäftig­ung vieler Menschen mit der eigenen Ernährung geführt hat.

Auch die Gastronomi­e knapp unterhalb der Sterneküch­e reagiert mittlerwei­le auf den steigenden Bedarf nach fleischlos­em Essen. Wer darauf achtet, findet in der Rubrik »Vegetarisc­h« nicht mehr bloß Salate, Pasta und Risotto. Vielerorts sind die Zeiten vorbei, in denen Vegetarier mit Beilagen wie Kartoffelg­ratin oder verkochtem Buttergemü­se abgespeist wurden.

Stattdesse­n werden die Köche mutiger und ambitionie­rter, woran asiatische Einflüsse ebenso einen Anteil haben wie der Trend zu regionalen Zutaten.

Vorreiter waren wie so oft die Köche der New Nordic Cuisine, allen voran René Redzepi mit dem »Noma«. Redzepi hat auch deshalb Maßstäbe gesetzt, weil er teilweise mit wissenscha­ftlichen Methoden und einem eigenen Labor die Grenzen des bisher Kochbaren verrückte. Insbesonde­re für die Fermentati­on legte Redzepi viele Grundlagen – und publiziert­e mit dem Direktor seines Labors, David Zilber, sogar ein Buch darüber. Legendär auch der Shawarma-spieß aus Sellerie und Trüffel, der täuschend echt aussah und schmeckte. Doch selbst Redzepi gab in einem Interview zu Protokoll, dass das erste rein vegetarisc­he Menü 2018 »die größte Herausford­erung meiner Karriere« gewesen sei.

Ausnahmekü­nstler wie Michel Bras in Laguiole haben früh Ausrufezei­chen gesetzt: Schon 1978 bot Bras ein Gemüse-menü an, mit begrenztem Erfolg allerdings. Ende der 1980er-jahre erfand er den berühmten Teller »Gargouillo­u«, eines der poetischst­en Gerichte der Hochküche, bestehend nur aus Blüten und Gemüsen, allerdings teilweise mit Speck angebraten. Oder Alain Passard, der sich im dreifach besternten »L’arpège« seit 20 Jahren auf Gemüse konzentrie­rt, wenn auch nicht ausschließ­lich. Paul Ivic hat mit seinem vegetarisc­hen Restaurant »Tian« in Wien, für das er seit 2014 einen Stern hält, Pionierarb­eit geleistet, Gleiches gelang Pietro Leemann in Mailand mit dem »Joia« im Jahr 1996.

Der Boom kam nicht über Nacht, sondern allmählich – wie eine Idee, deren Zeit reif ist. Die Beschäftig­ung mit Gemüse bringt die Kochkultur jedenfalls voran, und finanziell lohnt es sich auch. Daniel Humm hat ein klares Feedback für seine Umstellung auf fleischlos­e Küche bekommen: Im »Eleven Madison Park« ist das komplette Reservieru­ngsfenster bis in den nächsten Monat hinein ausgebucht. <

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 ??  ?? Der Franzose Michel Bras erfand eines der poetischst­en Gerichte der Kochgeschi­chte: »Gargouillo­u«. Heute bereitet Sohn Sébastien die Kreation aus Blüten und Gemüse zu.
Der Franzose Michel Bras erfand eines der poetischst­en Gerichte der Kochgeschi­chte: »Gargouillo­u«. Heute bereitet Sohn Sébastien die Kreation aus Blüten und Gemüse zu.
 ??  ?? Pilze aller Art spielen eine große Rolle für den Ersatz von Fleisch, in Österreich etwa von »Hermann Fleischlos«; auch für Milch drängen immer mehr pflanzlich­e Alternativ­en auf den Markt.
Pilze aller Art spielen eine große Rolle für den Ersatz von Fleisch, in Österreich etwa von »Hermann Fleischlos«; auch für Milch drängen immer mehr pflanzlich­e Alternativ­en auf den Markt.
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 ??  ?? René Redzepi verschob im »Noma« die Grenzen der Kochkunst. Hier serviert der Ausnahmekö­nner im Schimmel eingemacht­en grünen Spargel.
René Redzepi verschob im »Noma« die Grenzen der Kochkunst. Hier serviert der Ausnahmekö­nner im Schimmel eingemacht­en grünen Spargel.
 ??  ?? Die erste Drei-sterne-köchin der USA, Dominique Crenn, verbannte 2019 Fleisch von allen Speisekart­en ihrer Restaurant­s.
Die erste Drei-sterne-köchin der USA, Dominique Crenn, verbannte 2019 Fleisch von allen Speisekart­en ihrer Restaurant­s.
 ??  ?? Daniel Humm verzichtet in seinem dreifach besternten New Yorker Restaurant »Eleven Madison Park« seit Mai auf tierische Produkte.
Daniel Humm verzichtet in seinem dreifach besternten New Yorker Restaurant »Eleven Madison Park« seit Mai auf tierische Produkte.
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Aus den aufwendig gepflegten Gärten von »Maison Bras« kommen Gemüse und Blumen für die Küche.
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Ähnlich wie das »Noma« in Dänemark wechselt auch das »100/200« in Hamburg für mehrere Monate im Jahr zu einer vegetarisc­hen Karte.
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 ??  ?? Im »Tian« in Wien wurde die fleischlos­e Haute Cuisine schon früh zur Blüte gebracht.
Im »Tian« in Wien wurde die fleischlos­e Haute Cuisine schon früh zur Blüte gebracht.

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