»REICH UNS DAS GLAS, SCHENK EIN DEN WEIN«
IM ORIGINAL SIND DIE GESCHICHTEN, DIE SCHEHERAZADE IN DEN MUND GELEGT WERDEN, ALLES ANDERE ALS MÄRCHEN FÜR KINDER.
Die orientalischen Märchen »Tausendundeine Nacht« zählen zur Weltliteratur. Die schöne Scheherazade zieht den König mit ihren Worten jede Nacht aufs Neue in den Bann. Ihre Geschichten handeln von Liebe und sinnlichen Genüssen.
Der Zorn des Sassanidenkönigs Schahriyar ist unermesslich. Als er entdeckt, dass ihn seine Ehefrau mit einem Sklaven betrogen hat, lässt er sie umbringen. Ihre Sklavinnen und Dienerinnen tötet er mit seinen eigenen Händen. Dann verkündet er, fortan nur mehr für eine einzige Nacht zu heiraten und die Frau am nächsten Morgen von seinem Wesir umbringen zu lassen. Auf diese Weise kann er sicher sein, nie wieder betrogen zu werden. Bald schon beweinen Mütter und Väter ihre unschuldigen Töchter. Drei Jahre vergehen, und der Wesir findet im ganzen Reich keine Jungfrauen mehr, die er mit dem Tyrannen vermählen kann. Da fasst seine Tochter Scheherazade einen mutigen Entschluss: Sie will die nächste Frau des Königs werden, um dem grausamen Morden ein Ende zu setzen. Der Wesir ist verzweifelt, aber es gelingt ihm nicht, seine Tochter von ihrem Plan abzubringen.
So heiratet Scheherazade den König. Als es dunkel wird und sich die beiden in ihre Gemächer zurückziehen, fragt Scheherazade Schahriyar: »Erlaubst du mir, eine Geschichte zu erzählen?« »Ja«, antwortet er. Sie beginnt eine Geschichte zu erzählen, doch gerade als die Spannung am größten ist, bemerkt sie den ersten Schimmer der Morgendämmerung am Horizont und verstummt. Dem König passt das gar nicht, er will das Ende der Geschichte erfahren. Deshalb bleibt ihm nichts anderes übrig, als Scheherazade noch eine Nacht am
Leben zu lassen. Sie verspricht ihm: »Was du gerade gehört hast, ist nichts im Vergleich zu dem, was ich dir in der nächsten Nacht zu erzählen gedenke, wenn ich am Leben bleibe und du, mein König, mir einen Aufschub gewährst …« Kaum ist die Dunkelheit hereingebrochen, beginnt das Spiel von Neuem. Scheherazade erzählt um ihr Leben, und es gelingt ihr wieder und wieder, Schahriyar Appetit auf noch mehr zu machen. So vergehen tausendundeine Nacht, und Scheherazade bittet den König schließlich, er möge sie begnadigen. Er willigt ein und er dankt ihr, ihn von seinem Zorn befreit zu haben. Ein rauschendes Fest wird gefeiert, und die beiden leben in
Freude, Glück und Frieden, bis sie getrennt werden »von jenem, der das Gebäude der Glückseligkeit zerstört und die Zusammenkünfte zerstreut«.
Viele Menschen denken, wenn sie von »Tausendundeine Nacht« hören, an orientalische Märchen, die man Kindern vor dem Schlafengehen erzählt. Etwa an die Geschichte von »Alâ ed-dîn und der Wunderlampe« oder jene von »Sindbad dem Seefahrer«. Doch diese »Märchen« sind relativ jung. Das erste Mal tauchen sie in der zwölfbändigen Sammlung »Les mille et une nuits« aus dem 18. Jahrhundert auf. In den ersten Fragmenten aus dem zehnten Jahrhundert finden sie sich nicht. Dort finden sich vielmehr pikante Erzählungen, die für Kinderohren nicht recht geeignet sind. Scheherazade verstand es nämlich, ihren König mit erotischen Details und Fantasien zu betören. In den neueren Übersetzungen ist davon nicht mehr viel zu lesen. Als der französische Orientalist Antoine Galland sich nämlich 1704 entschloss, die Erzählungen ins Französische zu übersetzen, straffte und entschärfte er sie, um sie einer möglichst breiten Leserschaft zu eröffnen. Die laszive Tonalität der ersten Überlieferungen, dessen war sich Galland bewusst, hätten die gehobenen Kreise Europas als unsittlich empfunden.
Doch die kluge Scheherezade bediente sich nicht nur der Erotik, um ihren König
zu begeistern. Genauso erregte sie seine Sinne, indem sie ihm von Liebesmahlen, kulinarischen Köstlichkeiten und dem Geruch von Lavendel, Rosen und Moschus berichtete.
MÄRCHEN FÜR GOURMETS
Ein Beispiel dafür, welch wichtige Rolle Essen und Trinken in »Tausendundeine Nacht« spielen, ist »Die Geschichte des Lastträgers und der drei Damen«, die Scheherezade in der 28. Nacht zu erzählen beginnt: Eine große schöne Frau spricht einen Lastenträger auf Bagdads Straßen an, damit er sie bei ihren Besorgungen begleitet. Am Basar kauft sie Äpfel mit heller Schale, Quitten aus der Türkei, Pfirsiche aus Chullan, Limonen aus Marâkib, feine Gurken, Nüsse, Basilikum, Öl, Wein, Likör, Hennablüten, Seerosen und noch vieles mehr. Danach geht sie mit dem Träger zum Fleischer und Zuckerbäcker, um süße und salzige Leckerbissen zu kaufen, die bei keinem opulenten Festmahl fehlen dürfen. All diese Köstlichkeiten schleppt der Mann zu einem prächtigen Haus, in dem die Frau mit zwei weiteren wohnt. Als sie ihn bezahlen wollen, lehnt er ab. Viel lieber will er mit ihnen speisen. Amüsiert stimmen die drei zu. Sie trinken Wein, essen und spaßen miteinander. Doch dann muss der Gast ihnen geloben, keine Fragen zu stellen, was auch immer passieren möge. Das tut er – und das Unglück nimmt seinen Lauf.
Beschreibungen, die jedem Feinschmecker das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen, finden sich auch in vielen anderen Erzählungen von »Tausenduneine Nacht«: »Die Gemahlin des Kalifen«, »Ein gefahrvolles Liebesmahl« oder »Eine glücksbringende Speise«, – um nur einige zu nennen. Selbst wenn Scherhazade nie beschreibt, wie all die erlesenen Gerichte zubereitet werden, so wissen wir doch erstaunlich viel über die arabische Küche des Abbasiden-reichs, das fünf Jahrhunderte (750 bis 1258) bestand. Die Kochkunst hat sich besonders am Hof der abbasidischen Kalifen entwickelt, wo sie – wie die Literatur, die Verskunst und die Musik – als wesentliches Element der Lebenskultur galt. Die Sensibilisierung des Geschmacks war fester Bestandteil der Ausbildung von Adel und Würdenträgern. Das erklärt auch, weshalb während der langen Periode des abbasidischen Kalifats so viele Abhand
lungen über die Kochkunst und über Essenszeremonielle entstanden. Kochbücher wurden vorwiegend zu Ehren des Kalifen verfasst und galten als eine eigene literarische Kunstform, die vor allem Gelehrte und Wissenschaftler beherrschten.
NUR DIE MELANZANI ZÄHLT
All diese kulinarischen Niederschriften zeigen, dass die arabische Küche eine sehr feine, vielseitige und fantasievolle war (und ist), und dass die Zubereitung viele verschiedene Zutaten und Gewürze, aber vor allem
Raffinesse erforderte. Den verschiedenen Quellen zufolge war Ziegen-, Lamm und Hühnerfleisch fixer Bestandteil jedes Festmahls. In einem der berühmtesten Kochbücher dieser Zeit, dem Kitâb al-wusla (»Buch vom Gekochten«), finden sich gleich 74 verschiedene Rezepte für Hühnerfleisch (gebraten, mit Zitrone, Pistazien, Mandeln. Orangen, Maulbeergelee, Rosenkonfitüre, Quitten, Essig, getrockneten Früchten usw.). Zu den beliebtesten Gemüsesorten zählten Gurken, grüne Bohnen, Mangold, weiße Rüben, Fenchel, Spinat und Kürbis. Das Gemüse wurde entweder gekocht und mit Sauermilch, Rhabarber-, Apfelsaft, vergorenem Wein sowie Essigsaucen serviert oder aber gleich in Essig eingelegt. Besonderen Stellenwert hatten in der arabischen Küche Melanzani. Ihnen wurden magische Kräfte zugesprochen. Der Legende nach sollte sich ein Mann vor der Wahl seiner Braut vergewissern, ob sie es auch verstand, Melanzani auf 50 verschiedene Arten zuzubereiten. Denn nur dann war sie es wert, geheiratet zu werden.
Ein schwieriges Verhältnis hatten die abbasidischen Kalifen zu Wein. Während die einen meinten, nach dem Koran sei der Wein den Gläubigen vorbehalten, wenn sie ins Paradies kommen, meinten andere, das heilige Buch könne dahingehend auch anders interpretiert werden. Dattelwein war jedenfalls erlaubt, Rebenwein nicht. An das Verbot hielten sich gerade viele Mitglieder der Oberschicht nicht. Kalif Harun al-raschid soll das Weintrinken sogar ausdrücklich erlaubt haben. Literarisch unterstützt wurde er dabei von zwei der berühmtesten Dichter der abbasidischen Epoche, Abû Nuwâs und Omar Hayyâm. Beide liebten den Wein:
Die Karawane des Lebens, schau wie sie vorüberzieht,
Ergreife das Glück, in jedem Moment deines Lebens! Sorge dich nicht, oh Mundschenk, um das Morgen deiner Gäste,
Reich uns das Glas, schenk ein den Wein und höre: die Nacht vergeht. <