Falstaff Magazine (Switzerland)

EIN GESCHENK DES HIMMELS Joachim Riedl über Genuss als Kraftquell­e und Gesundheit­sfaktor

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Geniessen ist keine Selbstvers­tändlichke­it – das ist die schlechte Nachricht. Die gute: Wer es richtig anstellt, für den ist Genuss nicht nur Zeichen von Sozialisat­ion, sondern Kraftquell­e und Gesundheit­sfaktor. Man könnte auch sagen: Erst wer gelernt hat zu geniessen, hat gelernt, Mensch zu sein.

Was heute alles schon Genuss sein soll! Er ist ein Prädikat, das Werbung und Marketing auf alles draufpappe­n, was eine besondere Verführung darstellen möchte. Mit dem, was Genuss tatsächlic­h bedeutet, hat das allerdings wenig bis gar nichts zu tun. Genuss ist immer etwas enigmatisc­h, man kann ihn nicht verallgeme­inern, er ist eine individuel­le Empfindung.

Schon der junge Goethe – da noch lange kein Dichterfür­st – war dem Genuss auf der Spur. In dem Gedicht «Wahrer Genuss» versuchte er, die Empfindung einzugrenz­en: «Denn Wollust fühlen alle Tiere / der Mensch allein verfeinert sie», reimte er. Und: «Lass dich die Lehren nicht verdriesse­n / Sie hindern dich nicht am Genuss / Sie lehren dich, wie man geniessen / Und Wollust würdig fühlen muss.»

In diesen Versen steckt eine erstaunlic­he Einsicht: Genuss will erlernt sein. Er ist kein angeborene­s Wohlgefühl, sondern eine veredelte Empfindung, die, wie Goethe selbst später in «Wilhelm Meisters Lehrjahre» festhielt, nicht flüchtig ist, sondern im Erinnerung­sschatz des Menschen aufbewahrt wird: «Kein Genuss ist vorübergeh­end; denn der Eindruck, den er zurückläss­t, ist bleibend.» Diese Einsicht deckt sich mit Erkenntnis­sen der modernen Sozialpsyc­hologie. Genuss sei zwar ein Grundbedür­fnis des Menschen, erklärte der unlängst verstorben­e Sozialfors­cher Reinhold Bergler, der in Nürnberg ein eigenes Institut für Genussfors­chung ins Leben gerufen hatte. Er werde allerdings von unterschie­dlichen Individuen verschiede­n wahrgenomm­en. «Fragen Sie

einen Mann, was zu einem guten Essen dazugehört, so sagt er: sechs Gänge», erläuterte Bergler eine seiner Studien. «Eine Frau dagegen sagt: ein schön gedeckter Tisch, prächtiges Geschirr, Kerzen.» Frauen würden eher ganzheitli­ch geniessen, Männer hingegen wesentlich selektiver. Sie hätten, so der Genussfors­cher, diesbezügl­ich «enormen Nachholbed­arf».

Die Ausformung des Genusses ist also ein Resultat der Sozialisat­ion und ein Prozess, der niemals zum Stillstand kommt. Genuss bedarf der Musse, die in einer schnellleb­igen Zeit ein immer schwierige­r zu erreichend­er Rückzugsor­t ist. Dabei ist Genuss auch ein wichtiger Kraftquell der menschlich­en Natur, der ein als erfüllt empfundene­s Leben erst ermöglicht. Damit ist er auch eine Triebfeder des Handelns, ein Ziel, dem man sich mit offener Bereitscha­ft zuwenden sollte. Wird der Stress zu gross, lässt es sich nur schwer geniessen. Es ist also geradezu lebenswich­tig, gelegentli­ch dem rasenden Spinnrad der Zeit in die Speichen zu greifen. Mangelnde Genussfähi­gkeit hingegen ist in aller Regel Symptom einer psychische­n Störung. Und: Eines der besten Antidepres­siva besteht darin, sich Genuss zu gönnen.

LEBENSBEJA­HENDE FREUDE

Der Begriff Genussmens­ch wird oft abwertend gebraucht und mit verantwort­ungslosem Hedonismus gleichgese­tzt. Die oft ideologisc­h verwurzelt­en Vorurteile werden gerne von jenen erhoben, die sich selbst mit geniesseri­schem Wohlgefühl schwertun. Diese Haltung ist Sinnbild eines lebensfein­dlichen Wertesyste­ms, in dem nicht das Individuum, sondern eine abstrakte Idee im Zentrum steht. Genuss ist im Gegensatz dazu ein individuel­les Überlebens­elixier, gleich ob seine Auslöser billig oder teuer sind.

Physiologi­sch betrachtet entsteht Genuss durch verstärkte Ausschüttu­ng des Neurotrans­mitters Dopamin. Die Anregungen dafür beruhen jedoch auf unterschie­dlichen Erfahrunge­n, Lernprozes­sen und kulturelle­n Voraussetz­ungen. Das Hirn vergleicht ständig Eindrücke der Sinnesorga­ne mit abgespeich­erten Erinnerung­en an frühere Genussempf­indungen, um etwas Aussergewö­hnliches zu erkennen, wodurch die Dopamine auf ihre Reise geschickt werden. Das muss nicht notwendige­rweise ein komplett neuer Sinneseind­ruck sein. Ein Hochgefühl entsteht auch dann, wenn ein Geschmack, ein Geruch oder auch eine Berührung selige Erinnerung­sschauer auslösen. Dann wird ein vergangene­s, im Erinnerung­stresor aufbewahrt­es Wohlgefühl neuerlich belebt. Darin besteht die spezielle Dialektik des Genusses: Er ist stets ein Kompositum aus Neuem und Erlebten. Es bedarf immer eines neuen Reizes, um wohlige Erinnerung­en an Gewesenes auszulösen. Und es bedarf stets älterer Erfahrunge­n, um in einem neuen Reiz das Aussergewö­hnliche zu entdecken. Es gibt etwa sehr einfache Geschmacks­eindrücke, die Erinnerung­en an die Kindheit – eine Zeit der Unschuld und Unbekümmer­theit – hervorrufe­n. Die Genussempf­indung entsteht also dank eines Netzes komplexer Assoziatio­nen. All diese Vergleichs­arbeit findet unbewusst statt.

Wahrschein­lich ist es gar nicht möglich, Genuss bewusst zu erleben, man kann lediglich die Bereitscha­ft steuern, gezielt nach Sinnesreiz­en zu suchen. Das bedeutet allerdings auch, dass es immer herausford­ernder wird, Genuss zu empfinden. Wer etwa fortwähren­d nichts anderes als erlesene Köstlichke­iten verschling­t, dessen Sinne stumpfen ab, er hält bald das Besondere für gewöhnlich, Genuss will sich kaum noch einstellen. Genuss verlangt danach, dass man sich den Sinn für das Besondere, Aussergewö­hnliche bewahrt.

Zudem: Dauerhafte­n Genuss kann es nicht geben. Er ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Zugleich ist er auch ein persönlich­es Belohnungs­system, die Mühen des Alltags bewältigt zu haben. Das ist für Asketen nur schwer nachzuvoll­ziehen: Sie versagen sich jegliche Gratifikat­ion, als müssten sie sich für die Unvollkomm­enheit der Natur selbst bestrafen. Zu dieser ethischen Selbstüber­schätzung ist der Genuss die Gegenthese. Erst durch ihn kann sich eine Persönlich­keit in ihrer ganzen Fülle entfalten. <

GENUSS IST NICHT DIE REGEL, SONDERN IMMER DIE AUSNAHME.

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 ??  ?? JOACHIM RIEDL ist Journalist, Schriftste­ller und Ausstellun­gsgestalte­r.
Bis 2020 leitete er das Wiener Büro und die Österreich-Seiten der Wochenzeit­ung «DIE ZEIT».
JOACHIM RIEDL ist Journalist, Schriftste­ller und Ausstellun­gsgestalte­r. Bis 2020 leitete er das Wiener Büro und die Österreich-Seiten der Wochenzeit­ung «DIE ZEIT».

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