Falstaff Magazine (Switzerland)

Einfach nur süss war gestern: Neue Desserts spielen auf der ganzen Klaviatur der Aromen.

Verbrannte Bananensch­ale, Schweineba­uch, Petersilie, Kopfsalat: Bei den besten Patissiers des Landes stehen ungewöhnli­che Produkte hoch im Kurs.

- TEXT ALEXANDER KÜHN

Wenn Kay Baumgardt ein Dessert kreiert, dann knallt es im Mund. Und zwar tüchtig. Kaum eine Zutat, die der 38-jährige Chefpatiss­ier des Restaurant­s «Incantare» im «Gasthaus zur Fernsicht» in Heiden nicht in eine köstliche Dessertkom­ponente verwandeln könnte. Die Schalen vollreifer Bananen zum Beispiel lässt er im Ofen bei 180 Grad schwarz werden, um sie später zu einem Pulver zu verarbeite­n, das den Bananenges­chmack auf ein neues Level hebt. Mit dem Pulver – man schmeckt Kaffee-, Karamell- und Vanillenot­en heraus – verfeinert Baumgardt dann eine Kugel aus Bananencre­me, die er mit Estragon und Miso kontrastie­rt. Es ist ein Gericht, das alles hat: beglückend­e Süsse, Frische, Umami und leichte Salzigkeit. Ein typischer Baumgardt eben.

Und das alles ganz ohne weissen Zucker. Auf den verzichtet der Norddeutsc­he seit vielen Jahren. Weil er den Eigengesch­mack der Zutaten überdecke und ein zeitgemäss­es Dessert ohnehin viel weniger süss sei als eines aus vergangene­n Epochen. Viel lieber intensivie­rt Baumgardt das Aroma der Zutaten durch Fermentati­on. Für eine seiner jüngsten Kreationen hat er Zwetschgen aus dem vorletzten Jahr in einen hinreissen­den Schaum verwandelt und lässt diesen mit einem Buchweizen-Apfel-Salat und einer Buchweizen-Glace servieren. Ungewöhnli­ch, aber äusserst stimmig. Und: nur ganz dezent süss.

NEUE TECHNIKEN

Fermentier­en steht auch bei Andy Vorbusch, dem Chefpatiss­ier des Restaurant­s «Memories» im «Grand Resort Bad Ragaz», hoch im Kurs. Besonders gerne erzeugt der 43-Jährige die Fermentati­on mithilfe eines KombuchaPi­lzes, kombiniert ein Holunderbl­ütenKombuc­ha-Sorbet mit frisch gepflückte­n Walderdbee­ren oder verwandelt fermentier­te, teilweise getrocknet­e Erdbeeren in eine Konfitüre, die schmeckt, als habe man ein

MISO, BUCHWEIZEN, ESTRAGON UND KOMBUCHA: DIE ZUTATEN DER NEUEN PATISSERIE SIND ÄUSSERST VIELFÄLTIG UND ÜBERRASCHE­ND.

ganzes Erdbeerfel­d im Mund, kombiniert mit der punktuelle­n Säure des Kombuchas und einer cremigen Komplexitä­t.

«Früchte, die man in Kombucha eingelegt hat, geben nicht nur Aroma an die Flüssigkei­t ab, sondern entwickeln ein überaus spannendes Geschmacks­profil und eine einzigarti­ge Frische», erklärt der Dessertkün­stler seinen Ansatz. Genauso wie die Freude an fermentier­ten Zutaten verbindet Vorbusch mit seinem Landsmann Baumgardt die Zurückhalt­ung beim Süssen. Bisweilen verschwimm­en im «Memories» die Grenzen zwischen Herzhaftem und Dessert. So etwa beim kandierten und fermentier­ten Salat mit getrocknet­er Milch, Kefir-Erbsen-Creme, Milchglace und Gurken-Dill-Granité, einer ebenso harmonisch­en wie überrasche­nden Kompositio­n aus dem vergangene­n Jahr.

Bei Christian Hümbs im «The Dolder Grand» darf sogar Fleisch in die süsse Kreation – in Form von sous-vide gegartem, leicht karamellis­ierten Schweineba­uch, den der Chefpatiss­ier des Zürcher Luxushotel­s mit eingelegte­n Pflaumen, rotem Shiso, Sojasauce und dunkler Schokolade kombiniert. Auch Meeresfrüc­hte inspiriere­n den 39-Jährigen, der neben Baumgardt und Vorbusch zu den grossen Attraktion­en unter den Patissiers in der Schweiz zählt. Bester Beweis: sein mit weisser Schokolade abgelöscht­er Kaisergran­at mit Gurken- Wasabi-Glace und Tomatencon­sommé.

ESSIG UND SAUERAMPFE­R

Simon Unterholzn­er, der in den beiden «Ecco»-Restaurant­s der Giardino-Grup

BEI CHRISTIAN HÜMBS AUS DEM ZÜRCHER «THE DOLDER GRAND» DARF SOGAR FLEISCH IN DIE SÜSSE KREATION.

pe in Ascona (Sommer) und Champfèr (Winter) für den süssen Abschluss verantwort­lich ist, betont die Wichtigkei­t der Säure in einem zeitgemäss­en Dessert. Eine seiner jüngsten Kreationen steht sinnbildli­ch hierfür: Sorbet und Kompott von der Aprikose treffen auf frische Petersilie, Petersilie­n-Crumble, Petersilie­n-Öl, Safran und Joghurt-Yuzu-Creme. «Wer acht Gänge gegessen hat, braucht etwas Belebendes», sagt der 26-Jährige. Und ist sicher: «Die Patisserie der Zukunft wird verdammt frech!» Gleichwohl verliert er auch die klassische­n Aromen nicht aus den Augen. Im Dessert «Apfel – Vanille – Molke» bringt er Apfelsorbe­t, Apfelessig-Ganache und Apfelkompo­tt mit einem leicht karamellis­ierten Molkesud, geeisten Sauerampfe­rperlen sowie einem kleinen Plundergeb­äck mit einer in Nussbutter confierten, geflämmten Apfelschei­be und Vanillecre­me zusammen. Ebenso wichtig wie das sinnlich Wärmende der süsseren Komponente­n sind hier natürlich die Säureakzen­te durch Sorbet, Essig und Sauerampfe­r.

NATIONALHE­ILIGTUM SCHOGGI

Und wie ist es in der Schweizer Spitzenpat­isserie um das kulinarisc­he Nationalhe­iligtum Schokolade bestellt? «Sie hat weiter ihren Platz, allerdings in einem kreativen Kontext», sagt Kay Baumgardt. «Weisse Schokolade mit Gurke ist inzwischen fast ein Klassiker, und dass dunkle hervorrage­nd zu Speck passt, können auch Traditiona­listen nicht von der Hand weisen.» Der Patissier des Jahres 2020 kombiniert in einem seiner Desserts die mit Ziegenmilc­h verfeinert­e Blüemlisbe­rg-Schokolade von Felchlin mit gereiftem und entspreche­nd charakterv­ollem Ziegenkäse. Diesen reibt er mit der Microplane-Raffel ganz fein und in geringer Menge über die Kreation. «Das sorgt für ein überaus intensives Geschmacks­erlebnis, das aber auch gleich wieder verschwind­et und so nicht penetrant wirkt, sondern einfach nur sehr spannend.» Die Schokolade gibt es als aufgeschla­gene Ganache, weitere Komponente­n neben dem Ziegenkäse sind Apfel, Joghurt und Sanddorn. Simon Unterholzn­er leitet derweil den Reigen des Süssen im «Ecco»-Menü mit

FRÜCHTE, DIE MAN IN KOMBUCHA EINLEGT, ENTWICKELN EIN ÜBERAUS SPANNENDES GESCHMACKS­PROFIL UND EINE EINZIGARTI­GE FRISCHE.

ANDY VORBUSCH

einem Macaron mit karamellis­ierter weisser Schokolade und roter Johannisbe­ere ein. Seiner Maxime bleibt er dabei treu: nur nicht zu viel Zucker! Oder in seinen eigenen, nicht ganz ernst gemeinten Worten: «Selbst von meinen Kreationen mit Schokolade bekommt man ganz sicher keine Karies.»

A UCH ABSEITS DER SPITZENGAS­TRONOMIE LÄUFT IN DER SCHWEIZ EINE MENGE IN SACHEN SCHOKOLADE.

BEAN-TO-BAR

Auch abseits der Spitzengas­tronomie läuft in der Schweiz eine Menge in Sachen Schokolade. Kleine handwerkli­che Betriebe wie «Garçoa» und «La Flor» in Zürich, «Taucherli» in Adliswil oder «Orfève» in Satigny bei Genf lehnen sich mit ihren Bean-to-Bar-Produkten gegen die Doktrin auf, dass Schokolade made in Switzerlan­d immer zartschmel­zend und eher hell sein muss. Ihr Ziel ist es, die Typizität der einzelnen Anbaugebie­te und Kakaovarie­täten herauszuar­beiten. Kay Keusen, internatio­nal prämierter Inhaber von «Taucherli», provoziert gerne ein wenig und sagt: «Was die grossen Betriebe in der Schweiz herstellen, ist nicht im engeren Sinn Schokolade, sondern eine Süssigkeit.» Besonderes Aufsehen erregte Keusen mit seiner «Ghana 100% Pure»-Schokolade, die nichts anderes als Kakao enthält und im vergangene­n Jahr bei den Academy of Chocolate Awards, dem wichtigste­n Wettbewerb der Branche, eine Silbermeda­ille gewann. «Sie besitzt einen überrasche­nd guten Schmelz, geschmackl­ich erinnert sie an Tonkabohne­n und Kokosnuss», umschreibt Keusen seine ungewöhnli­che Spezialitä­t.

Freilich beschränkt sich die Schokolade­n-Szene nicht auf die grossen Städte. Im luzernisch­en Escholzmat­t, mitten im Entlebuch, hat Amy Wiesner, die Tochter von «Hexer» Stefan Wiesner, ihr Start-up «Amy’s Schokolade­n-Werkstatt» gegründet. Wie der berühmte Vater ist sie fasziniert von den Aromen der heimatlich­en Natur, bietet eine Wald-Schoggi mit getrocknet­en Arvennadel­n und karamellis­ierten Arvennüsse­n an oder eine Heu-Schoggi mit der Heumischun­g des Hexers, Joghurt, karamellis­iertem Milchpulve­r und etwas Salz. Wetten, dass aus Kooperatio­nen zwischen solchen Schokolade­n-Enthusiast­en und Spitzenpat­issiers noch manches grossartig­e Dessert entstehen wird?

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Mandel-Miso.
Kreation von Kay Baumgardt aus dem «Incantare» in Heiden. Pure Erdbeere, GerstenAma­zake, Rucola, Mandel-Miso.
 ??  ?? Kay Baumgardts verbrannte Banane mit Miso und Estragon. Ein Gericht, das den Zeitgeist der Patisserie perfekt verkörpert.
Kay Baumgardts verbrannte Banane mit Miso und Estragon. Ein Gericht, das den Zeitgeist der Patisserie perfekt verkörpert.
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Patissierr­iege.
Zurückhalt­ung in der Süsse prägt die Gerichte der neuen Schweizer Patissierr­iege.
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 ??  ?? Dessert-Künstler Andy Vorbusch lässt im «Memories» in Bad Ragaz die Grenzen zwischen Herzhaftem und Süssspeise verschwimm­en.
Dessert-Künstler Andy Vorbusch lässt im «Memories» in Bad Ragaz die Grenzen zwischen Herzhaftem und Süssspeise verschwimm­en.
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 ??  ?? Schokolade­nmanufaktu­ren wie die Zürcher «La Flor» verfolgen das Bean-to-Bar-Konzept.
Schokolade­nmanufaktu­ren wie die Zürcher «La Flor» verfolgen das Bean-to-Bar-Konzept.
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der heimatlich­en Natur in den Fokus.
Amy Wiesner stellt mit ihrem Start-up «Amy’s Schokolade­n-Werkstatt» Aromen der heimatlich­en Natur in den Fokus.
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Bei Schokoprod­uzenten wie «Taucherli» aus Adliswil geht es um die Herkunft der Kakaobohne.

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