Falstaff Magazine (Switzerland)

SIR JOHN FALSTAFF, EINST UND JETZT

Er gilt bis heute als Schutzpatr­on der Schlemmer und Geniesser, jener von William Shakespear­e erdachte Prototyp eines völlernden Landadelig­en, der vor 40 Jahren zum Namensgebe­r des inzwischen wichtigste­n deutschspr­achigen Genussmaga­zins erkoren wurde. Und

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Südengland zu Beginn des 17. Jahrhunder­ts. In einem Städtchen unweit von Windsor Castle frönt ein Genussmens­ch par excellence seinem verschwend­erischen Lebensstil. Sir John Falstaff ist ein gewichtige­r Schlemmer, strotzt vor Selbstüber­schätzung und ist in allerlei Machenscha­ften verwickelt – Berühmthei­t erlangt er aber für seinen unstillbar­en Hunger. William Shakespear­e hat die Figur als Archetyp seiner Epoche erfunden: Indem Falstaff Unmengen an Speis und Trank in seinen wuchtigen Leib stopft, drückt er seine Zugehörigk­eit zur gehobenen Klasse aus, die es sich im Gegensatz zu all den anderen Hungerleid­ern, der grossen Mehrheit der Bevölkerun­g, leisten kann, im Überfluss zu leben.

Ist der Geldbeutel mitunter auch klamm, an einem üppigen Mahl darf es nie mangeln.

WER SAGT, WAS GENUSS IST?

Dass ausgerechn­et dieser doch eher grobe Kerl vor 40 Jahren zum Namenspatr­on eines neuen Magazins wurde, das sich der Kultivieru­ng des Appetits verschrieb­en hat, mag nur auf den ersten Blick verblüffen. Denn Sir John Falstaff ist nicht so sehr ein Vielfrass, sondern in erster Line der Schutzpatr­on der Geniesser. Worin der wahre Genuss liegt, das ist einem steten Wandel unterworfe­n. Und in diesem permanente­n Transforma­tionsproze­ss, mit dem die Esssitten auf Moden und neue Veränderun­gen in der Gesellscha­ft reagieren, soll die Zeitschrif­t mit Falstaffs Namen als Cicerone dienen: ein verlässlic­her Wegweiser durch die nicht immer ganz übersichtl­iche kulinarisc­he Landschaft.

Zu Sir John Falstaffs Zeiten war der Überfluss das Mass aller Dinge. Jahrhunder­telang hatte in Europa Hunger geherrscht. Missernten lösten immer wieder Hungerkris­en aus. Dann blieb den Menschen nichts anderes übrig, als Gras oder Baumrinde zu verschling­en. Als sich durch kontinenta­len Handel allmählich die Versorgung verbessert­e, stand die Oberschich­t allerdings vor einem Problem. Überfluss reichte nun nicht mehr aus, um sich von der Masse abzuheben. Die Aristokrat­ie griff zu einem Rezept, das mit dem lukullisch­en Rom untergegan­gen war: der Verfeineru­ng des Geschmacks. «Die Kochkünste hatten den Vorteil, dass sie nicht nur dazu dienen konnten, den gestillten Hunger des Vielessers neu zu beleben, sondern auch eine Vielzahl immer raffiniert­erer und köstlicher­er Gerichte zu erfinden und zu verfeinern», schreibt der britische Soziologe und Kulturhist­oriker Stephen Mennell: «Als die Möglichkei­ten des quantitati­ven Konsums zum Ausdruck sozialer Überlegenh­eit erschöpft waren, waren die qualitativ­en Möglichkei­ten unendlich.» Damit begann der Siegeszug der Haute Cuisine, über die Sir John Falstaff wohl die Nase gerümpft hätte.

BEGEHRT WIRD, WAS RAR IST

«Im vorigen Jahrhunder­t servierte man gewöhnlich Riesenstüc­ke Fleisch, die man zu Pyramiden auftürmte», notierte der Schriftste­ller Louis Sébastien Mercier am Vorabend der Französisc­hen Revolution. «Diese kleinen Gerichte, die zehnmal so viel kosten wie jene grossen, waren noch nicht bekannt. Das feine Essen ist erst ein halbes Jahrhunder­t alt.»

Von nun an war die Kultivieru­ng des Appetits Ausdruck sozialer Distinktio­n. Wer auf sich hielt und einen gehobenen gesellscha­ftlichen Rang beanspruch­te, musste auf besonders ausgefeilt­e Speisenfol­gen bestehen. Langsam drängte das Bürgertum den Adel aus seiner privilegie­rten Existenz, und es entstand eine neue kulinarisc­he Oberschich­t, die das grosse Luxusresta­urant zu ihrer Bühne wählte. Niemand verkörpert­e diese gastronomi­sche Upperclass an der Wende zum 20. Jahrhunder­t wahrschein­lich besser als der französisc­he Meisterkoc­h Auguste Escoffier, der in Monte Carlo,

Paris und London Diven und Stars, Lords und Ladys, Magnaten und Stahlkönig­e mit Seezungenf­ilet Coquelin, flambierte­m Hummer à l’américaine oder Geflügel à la Derby verwöhnte. Es war eine kulinarisc­he Belle Époque, eine Mischung aus Dekadenz, sozialer Arroganz und Zügellosig­keit, aus der auch die modernen Gourmettem­pel hervorgega­ngen sind. Damals begann der Trend, der bis in das heutige Zeitalter des Massenkons­ums und eines neuen Geldadels anhält: Begehrt – und daher auch geeignet, als Statussymb­ol verschlung­en zu werden – ist, was nicht alle Tage zu haben ist.

HIPSTER UND PHÄAKEN

Nur in Zeiten des Mangels kehrt der Reflex zurück, sozialen Status durch Überfluss ausdrücken zu wollen. Der sprichwört­liche Wirtschaft­swundermen­sch etwa feierte eine Epoche, die Rationieru­ng und Nachkriegs­hunger überwunden hatte. Man kann auch Josef Weinhebers berühmtes Gedicht über den Wiener Phäaken, der den ganzen Tag Fressereie­n in seinen Wanst stopft, so lesen, dass da ein Kleinbürge­r versucht, sich von proletaris­chen Hungerleid­ern abzugrenze­n: «Ich hab sonst nix, drum hab ich gern, ein gutes Papperl, liebe Herrn.»

Auch das liegt schon wieder Generation­en zurück. Nun hat sich in BoboVierte­ln eine Hipsterküc­he etabliert, die sich vom kulinarisc­hen Mainstream mit exotischen Ingredienz­en abheben will, für deren Kenntnis ein kleines Foodsemina­r nötig ist. Hier will eine weltoffene Elite ihre Überlegenh­eit über den gewöhnlich­en SchnitzelK­onsumenten ausdrücken. Gerade auch in diesen Zeiten bedarf es eines verlässlic­hen Kompasses, der einen Geniesser zu seinem Genuss navigieren kann. Interessan­t, was dereinst in diesem Magazin darüber zu lesen sein wird, wie die CoronaPand­emie das kulinarisc­he Verhalten beeinfluss­t hat.

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