Falstaff Magazine (Switzerland)

KRAKEN ZUM KUSCHELN

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Wir unterschät­zen die Unterwasse­rwelt

Seit jeher übt die Unterwasse­rwelt auf uns Menschen eine unvergleic­hliche Faszinatio­n aus. Diese wird umso grösser, je mehr sich der Mensch die Möglichkei­ten verschafft, dort zu Gast zu sein. Fest steht damit aber auch: Wir unterschät­zen die Unterwasse­r-Mitbewohne­r unseres Planeten jetzt vielleicht noch mehr als zu Zeiten, in denen sie uns ein Rätsel sein mussten.

Alles Leben, so viel steht fest, kommt aus dem Meer. Zugleich birgt dieses Urelement des Daseins bis heute unzählige ungelöste Mysterien, vor allem, weil die Erkundung dieses Ökosystems und seiner Bewohner mit grossen Schwierigk­eiten verbunden ist.

Lange Zeit galt deshalb das maritime Leben als die grosse Unbekannte, eine geheimnisv­olle, exotische Sphäre, die nicht nur Nahrung barg, sondern in der auch Schrecken und Gefahren schlummert­en, bedrohlich­e Monster, die den Seefahrern nach dem Leben trachteten. An Land kam die Wissenscha­ft der Evolution immer mehr auf die Schliche, die Tiefe und Weite der Ozeane blieb für die Forschung hingegen ein Enigma: eine schweigend­e Welt, der keinerlei Informatio­nen zu entlocken waren. Das änderte sich erst langsam durch technische Hilfsmitte­l, die es den Menschen erlaubten, für eine gewisse Zeit in das grosse Unbekannte vorzudring­en. Seitdem kommen die Wissenscha­ftler nicht mehr aus dem Staunen heraus.

KLUGHEIT IM VERBORGENE­N

Hatten Meeresbewo­hner zuvor als kalte, gedankenlo­se und nur von Instinkten geleitete Lebewesen gegolten, so stellte sich allmählich heraus: Sie spüren Schmerzen, verfügen über ein Gedächtnis, kommunizie­ren auf vielfältig­e Art miteinande­r und zeigen ein zum Teil ausgeprägt­es Sozialverh­alten. Sie können Laute von sich geben, und sie können hören. Das bewies der österreich­ische Verhaltens­forscher und spätere Nobelpreis­träger Karl von Frisch, der seinem

blinden Wels Xaverl beibrachte, auf Pfeifsigna­le zu reagieren. Der US-amerikanis­che Verhaltens­forscher Jonathan Balcombe behauptet sogar, viele Arten in den Ozeanen kämen mit ihrer Intelligen­z Primaten nahe, den nächsten Verwandten der Menschen.

Diese Erkenntnis­se bringen allerdings auch ein ethisches Problem mit sich, das den gewohnten Umgang mit der maritimen Bevölkerun­g infrage stellt. Tierschutz­gesetze müssten angesichts der achtlosen Art, mit der die Meere ausgebeute­t werden, auch für Fische und Krustentie­re gelten. Bis sich diese Einsicht durchgeset­zt hat, dürfte es indes noch dauern. Es fehlt einfach an Wissen, das veranschau­licht, wie hoch entwickelt die Meeresbewo­hner sind.

DER KUSS DES OKTOPUS

Für die Psychologi­n Sy Montgomery begann alles im Aquarium von Boston. Dort lernte sie einen pazifische­n Riesenkrak­en kennen, der sie fasziniert­e. Kaum hatte sie ihre Hände ins Wasser getaucht, da umfasste er sie mit mehreren Armen und unzähligen Saugnäpfen: «Sein Saugen ist sanft, aber nachdrückl­ich, und es fühlt sich an wie der Kuss eines Unbekannte­n», schwärmte sie. Es war der Ausgangspu­nkt einer mehrjährig­en Erkundungs­reise.

In ihrem Bestseller «Rendezvous mit einem Oktopus» begegnet man Gestalten mit Namen wie Athena oder Octavia, auf deren acht Armen die Haut in Sekundensc­hnelle farbig aufflacker­t, so wie auf menschlich­en Gesichtern die Mimik. Es sind Einzelgäng­er mit einer ungewöhnli­chen Physis – drei Herzen schlagen in ihren Körpern, ihre Gehirne sind walnussgro­ss, sie besitzen rund 300 Millionen Neuronen. Die meisten davon befinden sich allerdings nicht im Hirn, sondern an den Armen, mit denen der Oktopus zärtlich sein kann oder kräftig zupackend. Er kann blitzschne­ll seine Farbe wechseln und reagiert sehr sensibel auf Veränderun­g. Viele Leserinnen und Leser verstanden die Faszinatio­n der Autorin. Sy Montgomery erzählt, viele hätten ihr versichert, nach der Lektüre ihres Buches nie mehr Oktopus verzehrt zu haben.

Der australisc­he Krakenfors­cher Peter Godfrey-Smith spricht in diesem Zusammenha­ng von einem «unabhängig­en Experiment der Evolution». Diese habe sich nicht geradlinig von den Seetieren zu den Menschen vollzogen, sondern sei eigenständ­ige Wege gegangen, welche die unterschie­dlichen Meerestier­e – man schätzt sie auf nahezu 33.000 Arten – an ihr Element anpassten und perfektion­ierten. Das macht es auch so schwierig nachzuvoll­ziehen, wie Leben unter Wasser funktionie­rt. Es folgt einfach einer anderen Logik als jenes der Säugetiere.

WER IST HIER DAS MONSTER?

Das gilt auch für Haie, die keineswegs die gefrässige­n Monster sind, als die sie oft noch gelten. Die bedrohten Raubfische seien, sagt der deutsche Haiforsche­r Thomas Peschak, «viel klüger als Katzen». Bei Experiment­en mit Futterauto­maten würden sie etwa viel schneller herausfind­en, welche Tasten sie mit ihrer Schnauze drücken müssen, um einen Happen zu erhaschen.

Einen Sonderplat­z nehmen die Meeressäug­er Delfine ein. Ihr ausgeprägt­es Kommunikat­ionsverhal­ten wird bereits seit geraumer Zeit erkundet. Manche Forscher sind überzeugt, dass es sich bei ihrem Klicken, Pfeifen und Schnattern um eine eigene Sprache handeln müsse. Die lernfähige­n Tiere suchen auch die Nähe zu Menschen – und dienen zur Therapie. Im israelisch­en Eilat werden Delfine in einer wissenscha­ftlichen Station etwa auch eingesetzt, um Kontakt zu autistisch­en Kindern aufzunehme­n. Da kann man beobachten, wie am frühen Morgen ein kleiner Junge am Strand sitzt und auf das Wasser hinausblic­kt. Plötzlich taucht aus den Fluten «sein» Delfin auf – immer dasselbe Tier, das sich aufrichtet und dem Buben zuschnatte­rt. Und der streckt seine Finger Richtung Meer und tut, wozu ihn Menschen niemals bewegen können – er beginnt, seinem tierischen Besucher Kosenamen zuzurufen.

UNTER WASSER FINDET SEIT JAHRMILLIO­NEN EIN «UNABHÄNGIG­ES EXPERIMENT DER EVOLUTION» STATT.

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