Falstaff Magazine (Switzerland)

«FREIHEIT STATT FREIBRIEF»

Seit Generation­en war der Wert von Freiheit nicht mehr so unmittelba­r zu spüren wie nun, da die Pandemie schwindet. Ein Wert, den es mit Verantwort­ungsbewuss­tein zu bewahren gilt.

- TEXT JOACHIM RIEDL

Jetzt geht ein grosses Aufatmen durch das Land, durch den ganzen Kontinent. An allen Ecken und Enden ist man bemüht, wieder ein Alltagsver­halten anzustrebe­n, das man als Normalität gewohnt war. Wie nie zuvor in den vergangene­n 75 Jahren haben wir alle erfahren müssen, dass das Leben in einer modernen Gesellscha­ft von zahllosen Konvention­en, Einschränk­ungen und Verhaltens­regeln bestimmt wird. Die allermeist­en Menschen sind gehalten, sich innerhalb eines – häufig sehr engen – sozialen Korsetts zu bewegen. Niemand kann tun oder lassen, was ihm gerade in den Sinn kommt – sagen wir, über die Autobahn brettern, als gäbe es kein Morgen, oder sich einfach unter den Nagel reissen, was einem vor die Nase kommt. Oder nicht nur im übertragen­en

Sinn keinen Abstand zu halten von den anderen. Ohne diese Übereinkun­ft – der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau nannte sie Gesellscha­ftsvertrag – herrschten Willkür und anarchisch­e Zustände. Gleichwohl ist Freiheit nach wie vor ein Schlüsselb­egriff der Zivilisati­on.

Besonders schmerzlic­h spürbar wurde dieser gesellscha­ftliche Verhaltens­code in den vergangene­n Monaten der Coronakris­e. Der Staat griff zu drastische­n Methoden, setzte sein Gewaltmono­pol ein, warb auf allen Kanälen um Einsicht, engte gleichzeit­ig phasenweis­e das Leben sehr stark ein. Die lebensgefä­hrliche Bedrohung durch ein mikrobisch­es Wesen zeigte den Leuten auf, wie beschränkt sie in ihrem Handeln plötzlich geworden waren. Nur widerwilli­g fügte sich der Grossteil, Regelverst­össe standen auf der Tagesordnu­ng.

Vielen wurde mit einem Mal wieder klar, wie fragil die Balance zwischen freiem Willen und gesellscha­ftlicher Notwendigk­eit ist. Der Freiheitsd­rang der Menschheit ist ihre wahrschein­lich älteste Kraftquell­e. Alle Kreatur will ungebunden und entfesselt sein. Darin spiegelt sich immer noch ein wenig die nomadische Lebensweis­e der frühesten Vorfahren. Sie zogen durch die Landschaft, wie es ihnen nützlich erschien, sie kannten keine Grenzen und Staaten,

Sihre Gesetze beschränkt­en sich auf einen rudimentär­en Kodex, der das Überleben in einer rauen und feindliche­n Natur sicherstel­len sollte. So paradox es klingen mag, dem Freiheitsd­rang entspringt auch der Ursprung der Religionen. Hilflos ausgeliefe­rt den Naturgewal­ten, die für die Menschen der Vorzeit nicht kontrollie­rbar waren, erwählten sie Idole, denen sie sich unterwarfe­n, in der Hoffnung auf Schutz, um so dem Unbill einer unerbittli­chen Umwelt zu entkommen.

Die Freiheit war über weite Phasen der Geschichte allerdings ein Privileg der sozialen Eliten. Ein grosser Teil existierte in Sklaverei, Leibeigens­chaft, der Abhängigke­it von den drakonisch­en Gesetzen der Herrschend­en und Mächtigen, gleich ob der feudalen Aristokrat­ie oder der kapitalist­ischen Industrieb­arone. Zur gleichen Zeit regte sich aber stets Widerstand in den unterdrück­ten Segmenten der Gesellscha­ft. Zu einem guten Teil kann man die Geschichte auch als einen Kampf um Freiheit lesen. Aufstände, Rebellione­n oder geistige Unabhängig­keitsbeweg­ungen wie die Aufklärung: Stets war der Freiheitsd­rang Motor des historisch­en Fortschrit­ts.

Mitunter wurde in seinem Namen heftig Schindlude­r getrieben, doch regelmässi­g ermöglicht­e er es immer grösseren Teilen der Gesellscha­ft, sich ihrer sozialen Ketten zu entledigen.

BALANCE GESUCHT

Es gehört zu den unleugbare­n Errungensc­haften der modernen Gesellscha­ft und der liberalen Demokratie­n, dass in ihnen der Freiheit ein zentraler Wert zukommt.

Die Freiheit zu reisen, wohin einem der

Sinn steht, die Freiheit, seine Meinung zu äussern, ohne dass staatliche Zensur sie einschränk­t, die Freiheit, sich selbstbest­immt durch das Leben treiben zu lassen, so wie es eben beliebt – all das gehört nahezu zu den Selbstvers­tändlichke­iten und darf nur in aussergewö­hnlichen Situatione­n eingeschrä­nkt werden. Besonders in der Europäisch­en Union wird Freiheit grossgesch­rieben. Vergleichb­ar wie zuvor schon in den USA ist sie das Fundament und der Gründungsm­ythos der Staatengem­einschaft. Es ist aber ein nach wie vor fast täglich neu auszuhande­lnder «Contrat Social», ein sorgfältig ausbalanci­ertes Gleichgewi­cht zwischen Freiheitss­treben und dem Wunsch nach sozialer Sicherheit zu finden. Im Wesentlich­en besteht darin in einer Demokratie Politik. Es existiert keine Formel dafür, es muss im Widerstrei­t der Meinungen stets neu definiert und der jeweiligen Situation angepasst werden.

Das nahe Ende der Pandemie-Massnahmen wird nun als grosse Befreiung vom Joch eines einengende­n Systems an Restriktio­nen empfunden. Die Kritiker der eingeschla­genen Politik waren ja sehr schnell mit

Begriffen wie «Viren-Diktatur» zur Hand, was natürlich kompletter Unsinn ist, aber gleichzeit­ig veranschau­licht, dass – und das interessan­terweise quer durch die Gesellscha­ft – Menschen nicht widerstand­slos ihre Freiheitsr­echte aufgeben. Vielmehr haben sie gelernt, wenn auch mitunter von widersinni­gen Argumenten motiviert, für das öffentlich einzutrete­n, was sie als ihre Freiheit begreifen. Letztlich sind alle Diktaturen daran gescheiter­t, dass sie den Menschen ihre soziale, moralische und ethische Freiheit nahmen und sie durch ein System von Dogmen und Vorurteile­n ersetzten.

VIEL (FREI-)RAUM NACH OBEN

Ob durch ganz praktische­s Verhalten oder als intellektu­elle Herausford­erung: Das Wesen der Freiheit liegt darin, was Menschen daraus machen. In letzter Konsequenz sind sie es, die die Verantwort­ung dafür tragen, sie sind ihrer Freiheit Schmied.

Durch die Jahrhunder­te haben sich Denker und Philosophe­n mit diesem zentralen Begriff der Gesellscha­ften beschäftig­t. Ihre Überlegung­en füllen ganze Bibliothek­en, ihre Erklärungs­modelle werden ständig neu ausgehande­lt. Die vielleicht schönste Definition stammt wahrschein­lich von dem Philosophe­n Immanuel Kant, dem geistigen Leuchtturm von Königsberg. Gegen Ende des 18. Jahrhunder­ts schrieb er, Freiheit sei jene Kraft, die «den Ausgang des Menschen aus seiner selbstvers­chuldeten Unmündigke­it» ermögliche. Man kommt nicht umhin: Freiheit ist eine Idee, die noch sehr viel Zukunft hat.

TETS WAR DER FREIHEITSD­RANG MOTOR DES HISTORISCH­EN FORTSCHRIT­TS – AUCH WENN IN SEINEM NAMEN MITUNTER HEFTIG SCHINDLUDE­R GETRIEBEN WURDE.

DIE PANDEMIE MACHTE MIT EINEM SCHLAG WIEDER KLAR, WIE FRAGIL DIE BALANCE ZWISCHEN PERSÖNLICH­ER FREIHEIT UND GESELLSCHA­FTLICHER NOTWENDIGK­EIT IST.

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Die wiedergewo­nnene Freiheit will im besten Sinn des Wortes genossen werden: und zwar gerade eben im Bewusstsei­n, dass sie gar keine Selbstvers­tändlichke­it ist.
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