Falstaff Magazine (Germany)

»ÜBERLEGTE EINFACHHEI­T – DAS IST DAS GROSSE THEMA«

Der Kulturhist­oriker Erwin Seitz hat die Geschichte des Gasthauses erforscht und sagt: Nie war es zeitgemäße­r als heute. Ein Gespräch über die Renaissanc­e von bodenständ­iger Küche, Gemütlichk­eit und Wirte, die ihre Gäste kennen.

- INTERVIEW SEBASTIAN SPÄTH

FALSTAFF: Herr Seitz, was macht ein gutes Wirtshaus aus?

ERWIN SEITZ: Es gelten noch immer dieselben Kriterien wie bereits im späten Mittelalte­r und in der Renaissanc­e, der Hochzeit des Gasthauses: gutes Handwerk, die Pflege traditione­ll deutscher Küche, sagen wir, Leberknöde­lsuppe oder Semmelknöd­el, Bratwurst und Sauerkraut, handgescha­bte Spätzle. Im guten Gasthaus wird schonend mit Ressourcen umgegangen, dem Etepetete, der Exotik, dem Überangebo­t eine Absage erteilt. Die Zutaten werden nicht aus aller Welt bezogen, sondern hauptsächl­ich aus der regionalen Kreislaufw­irtschaft. Überlegte Einfachhei­t – das ist das große Thema des Gasthauses.

Das klingt, als wäre das Gasthaus nie zeitgemäße­r gewesen als heute. Die Realität ist jedoch, dass seit Jahren ein Traditions­betrieb nach dem anderen schließt, insbesonde­re auf dem Land und in kleinen Gemeinden. Wie erklären Sie das?

Es lassen sich gegenläufi­ge Entwicklun­gen verfolgen. Es gibt natürlich das Gasthausst­erben. Viele Betriebe finden keine Nachfolge. Dennoch erlebt das Wirtshaus gerade eine Renaissanc­e. Überall dort, wo junge Leute mit einer guten Ausbildung und einem fundierten Konzept ein Gasthaus gründen, stoßen sie auf große Nachfrage, weil das Gasthaus über Eigenschaf­ten verfügt, die dem neuen Lebensstil entgegenko­mmen: Es ist alltagstau­glich, leicht zugänglich, hierarchis­ch flach und für den Geldbeutel nicht gerade ruinös. Wenn Sie es so wollen, ist das Gasthaus ein Lokaltypus aus vorindustr­ieller Zeit für die nachindust­rielle Gesellscha­ft.

Woran machen Sie das fest?

In der Kulinarik gibt es einen Trend zu mehr Purismus und Natürlichk­eit. Vielerorts schaut die Hochküche wieder aufs Gasthaus, gibt sich weniger komplizier­t und vereinfach­t ihr Angebot, etwa indem sie die Zahl der Gänge drastisch reduziert oder bloß noch ein Menü serviert. Zudem erleben traditione­lle Gerichte gerade ein Revival. Köche wechseln von der Spitzengas­tronomie ins Gasthaus, weil sie weniger verkünstel­t arbeiten wollen. Ein Paradebeis­piel dafür ist Maik de RieseMeyer vom »Engelbecke­n« in Berlin. Er hatte vormals im legendären Sternerest­aurant »Margaux« unter Michael Hoffmann gekocht.

Wie entstand überhaupt das erste Gasthaus?

Grundlegen­d für das Gasthaus ist die klösterlic­he Kultur. Schon im frühen Mittelalte­r waren Reichsklös­ter verpflicht­et, ihre Patronatsh­erren, Kaiser, Könige und Königinnen in Gasthäuser­n zu bewirten, dafür musste ein gewisses Niveau in Küche und Service entwickelt werden. Später vergaben Könige und Fürsten gastronomi­sche Lizenzen an Bürger und etablierte­n damit eine gewerblich­e Gastronomi­e. Die Regenten hatten Interesse daran, dass an Marktplätz­en und neben Kirchen Gasthäuser entstanden als Service für Händler und Pilger. Reisende aus Italien, Frankreich, England schwärmten von der Qualität der Bewirtung, von der Atmosphäre der holzvertäf­elten Stuben, den Kachelöfen, dem guten Essen, der Sauberkeit. Bis zum Ausbruch des Dreißigjäh­rigen Kriegs rissen die Lobeshymne­n über das deutsche Gasthaus nicht ab.

Und dann?

… lag das Land danieder, die Bevölkerun­g sank um ein Drittel, die Infrastruk­tur war zerstört. Es dauerte rund hundert Jahre, bis sich Deutschlan­d erholte. Das Gasthaus erhielt später Konkurrenz durch neue gastronomi­sche Varianten, Kaffeehaus und Restaurant, die sich glamouröse­r gaben. Aber das typische deutsche Gasthaus erhielt sich bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunder­ts, danach wurde es vielerorts industriel­l überformt. Convenienc­e Food, Rüsch und Plüsch hielten Einzug.

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