»ÜBERLEGTE EINFACHHEIT – DAS IST DAS GROSSE THEMA«
Der Kulturhistoriker Erwin Seitz hat die Geschichte des Gasthauses erforscht und sagt: Nie war es zeitgemäßer als heute. Ein Gespräch über die Renaissance von bodenständiger Küche, Gemütlichkeit und Wirte, die ihre Gäste kennen.
FALSTAFF: Herr Seitz, was macht ein gutes Wirtshaus aus?
ERWIN SEITZ: Es gelten noch immer dieselben Kriterien wie bereits im späten Mittelalter und in der Renaissance, der Hochzeit des Gasthauses: gutes Handwerk, die Pflege traditionell deutscher Küche, sagen wir, Leberknödelsuppe oder Semmelknödel, Bratwurst und Sauerkraut, handgeschabte Spätzle. Im guten Gasthaus wird schonend mit Ressourcen umgegangen, dem Etepetete, der Exotik, dem Überangebot eine Absage erteilt. Die Zutaten werden nicht aus aller Welt bezogen, sondern hauptsächlich aus der regionalen Kreislaufwirtschaft. Überlegte Einfachheit – das ist das große Thema des Gasthauses.
Das klingt, als wäre das Gasthaus nie zeitgemäßer gewesen als heute. Die Realität ist jedoch, dass seit Jahren ein Traditionsbetrieb nach dem anderen schließt, insbesondere auf dem Land und in kleinen Gemeinden. Wie erklären Sie das?
Es lassen sich gegenläufige Entwicklungen verfolgen. Es gibt natürlich das Gasthaussterben. Viele Betriebe finden keine Nachfolge. Dennoch erlebt das Wirtshaus gerade eine Renaissance. Überall dort, wo junge Leute mit einer guten Ausbildung und einem fundierten Konzept ein Gasthaus gründen, stoßen sie auf große Nachfrage, weil das Gasthaus über Eigenschaften verfügt, die dem neuen Lebensstil entgegenkommen: Es ist alltagstauglich, leicht zugänglich, hierarchisch flach und für den Geldbeutel nicht gerade ruinös. Wenn Sie es so wollen, ist das Gasthaus ein Lokaltypus aus vorindustrieller Zeit für die nachindustrielle Gesellschaft.
Woran machen Sie das fest?
In der Kulinarik gibt es einen Trend zu mehr Purismus und Natürlichkeit. Vielerorts schaut die Hochküche wieder aufs Gasthaus, gibt sich weniger kompliziert und vereinfacht ihr Angebot, etwa indem sie die Zahl der Gänge drastisch reduziert oder bloß noch ein Menü serviert. Zudem erleben traditionelle Gerichte gerade ein Revival. Köche wechseln von der Spitzengastronomie ins Gasthaus, weil sie weniger verkünstelt arbeiten wollen. Ein Paradebeispiel dafür ist Maik de RieseMeyer vom »Engelbecken« in Berlin. Er hatte vormals im legendären Sternerestaurant »Margaux« unter Michael Hoffmann gekocht.
Wie entstand überhaupt das erste Gasthaus?
Grundlegend für das Gasthaus ist die klösterliche Kultur. Schon im frühen Mittelalter waren Reichsklöster verpflichtet, ihre Patronatsherren, Kaiser, Könige und Königinnen in Gasthäusern zu bewirten, dafür musste ein gewisses Niveau in Küche und Service entwickelt werden. Später vergaben Könige und Fürsten gastronomische Lizenzen an Bürger und etablierten damit eine gewerbliche Gastronomie. Die Regenten hatten Interesse daran, dass an Marktplätzen und neben Kirchen Gasthäuser entstanden als Service für Händler und Pilger. Reisende aus Italien, Frankreich, England schwärmten von der Qualität der Bewirtung, von der Atmosphäre der holzvertäfelten Stuben, den Kachelöfen, dem guten Essen, der Sauberkeit. Bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs rissen die Lobeshymnen über das deutsche Gasthaus nicht ab.
Und dann?
… lag das Land danieder, die Bevölkerung sank um ein Drittel, die Infrastruktur war zerstört. Es dauerte rund hundert Jahre, bis sich Deutschland erholte. Das Gasthaus erhielt später Konkurrenz durch neue gastronomische Varianten, Kaffeehaus und Restaurant, die sich glamouröser gaben. Aber das typische deutsche Gasthaus erhielt sich bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, danach wurde es vielerorts industriell überformt. Convenience Food, Rüsch und Plüsch hielten Einzug.