ESSENZ DER BERGE
Traditionelle Liköre auf Basis alpiner Kiefernarten
Getrennt durch hohe Gipfel, haben sich in den einzelnen Alpenregionen ganz eigene Bräuche und Traditionen entwickelt. Doch die einzigartigen Lebensumstände inmitten der Berge haben auch zu Gemeinsamkeiten geführt. Eine davon ist die Herstellung erstklassiger Edelbrände mit den verfügbaren Naturprodukten – traditionelle Liköre auf Basis alpiner Kiefernarten gibt es beispielsweise überall, wo diese charaktervollen Bäume gedeihen.
Was sind typisch alpine Pflanzen? Das Edelweiß kommt einem bei dieser Frage schnell in den Sinn, vielleicht auch der Enzian oder der Krokus. An die Bäume der alpinen Pflanzenwelt hingegen denkt man selten zuerst, obwohl sie zu den faszinierendsten Gattungen der Berge gehören. Die Kiefernarten der Alpen gedeihen hoch über den Laubwäldern. Sogar über der eigentlichen Baumgrenze sind sie noch zu finden: Vereinzelt oder in kleinen Gruppen behaupten sie sich in den Steilhängen und trotzen als Einzelkämpfer der lebensfeindlichen Umwelt. Wenn man sich das vor Augen führt, verwundert es nicht, dass diesen knorrigen Baumgestalten ein gewisser Mythos innewohnt.
BAUM FÜR GENIESSER
Zu den typischen Bäumen der Alpen gehören unter anderem die Latschen- sowie die Zirbelkiefer. Mit ihren starken Wurzeln spielen sie in den Alpenregionen lange nicht nur als Lawinenschutz eine tragende Rolle. Auch Genießerinnen und Genießern sind sie ein Begriff. Um die Zirbelkiefer ist über die Jahre ein wahrer Genusskosmos entstanden. In der Schweiz wird der symbolträchtige Baum, der bis zu 1000 Jahre alt werden kann, meist als Arve bezeichnet. Ihr aromatisch duftendes Holz wird gerne als Möbel- und Schnitzholz verwendet, die Zapfen hingegen eignen sich für Zirbenoder Arvenliköre. Nicht nur geschmacklich weiß diese Spezialität zu überzeugen, der Zirbelkiefer wird auch eine herzberuhigende Wirkung nachgesagt.
Die Arve spielt auch bei Gisella und Luciano Beretta eine bedeutende Rolle. Die beiden betreiben eine Brennerei im Val Müstair – auch bekannt als Münstertal – im Schweizer Kanton Graubünden. Ihre Produkte sind legendär, mitunter weil diese bei Wettbewerben immer wieder erfolgreich sind. Die Berettas schaffen es mit ihrem großen Innovationsgeist, die Essenz des Val Müstair in ihren Bränden einzufangen. Dazu sind sie, wann immer möglich, selbst in der Natur unterwegs und sammeln die Grundzutaten für ihre hochprozentigen Spezialitäten gleich selber. Andere Grundzutaten wiederum lassen sie in ihrer Region anbauen. Dazu gehört etwa der BiosferaBergweizen Gran Alpin, der mit Zugabe von Wasser vergoren und dann gebrannt wird. Den so entstandenen Getreidebrand verkaufen die Berettas als GrandAlpin pur oder in Symbiose mit der besagten Arve.
Von Beretta werden zwei verschiedene Arven-Spezialitäten angeboten. Für den OvaSpin lässt Luciano Beretta wenige junge Arventriebe und zerkleinerte Zapfen in Bergweizen-Maische mitgären, bevor diese gebrannt wird. Pro 100 Liter Maische gerade einmal 100 Gramm Triebe und 100 Gramm Zapfen. Nach dem Brennen ist nur ein dezentes Kiefernaroma wahrnehmbar. Danach reift das Destillat unter Zugabe von frischen Trieben und Zapfen noch einmal für vier Monate in Barriquefässern. Für die zweite Spezialität, den Likör »Betschlas da Tschierv«, lässt Beretta im Münstertal gesammelte Arvenzapfen
vier Monate im Bergweizengeist ziehen und gibt dann Berghonig dazu, um das Ganze abzurunden.
ARVE, ZIRBE, ZIRM – VIELE NAMEN, EIN BAUM
In Österreich und Bayern wird die Zirbelkiefer als Zirbe oder Zirm bezeichnet und der Zirbenlikör oder -schnaps hat auch hier eine lange Tradition als Genuss- und Heilmittel. Die Bergbrennerei Löwen in Vorarlberg bietet die Zirbe in drei Versionen an: als klassischen Zirbenlikör mit brauner Farbe, als Geist gebrannt oder in Kombination mit Honig. Darüber hinaus ist das Haus bekannt für die diversen charaktervollen Kräuterbrände, die mit Zugabe von getrockneten Kräutern aus der Umgebung, frischen Bergwurzeln und aromatischen Gewürzen entstehen.
Die bekannte bayerische Traditionsbrennerei Lantenhammer wird heute in dritter Generation geführt. Sie machte in den letzten Jahren vor allem mit ihrem Slyrs-Whisky von sich reden. Doch nicht nur dort setzt die aktuelle Betreibergeneration auf Innovation. Im Jahr 2019 wurde die Raritas-Serie lanciert. Diese entstand mit dem
Urgendanken an den berühmten bayerischen Wolpertinger, ein mystisches Mischwesen, das selten jemand zu Gesicht bekommen hat. Ein solcher Wolpertinger – ein Hase mit Geweih – ziert das moderne Etikett der Produktreihe. Darunter auch Produkte mit Zirbe!
Die Destillation der edlen Rarität findet nicht in der Lantenhammer-Destillerie in Hausham statt, sie wird in nur kleinen Mengen in der Schlossbrennerei am Tegernsee durch die junge Destillateurin des Hauses, Christina Kölbl, durchgeführt. Sie selbst ist in ihrer Rolle auch für die Auswahl der Rohstoffe verantwortlich. Anders als bei den meisten Zirbenschnäpsen, setzt Brennerin Kölbl nicht auf die Zapfen des ikonischen Alpenbaums, sondern auf dessen Holz. Das führt zu einem einzigartigen Geschmackserlebnis mit waldig-würzigen Noten, aromatischen Harztönen und einer spürbaren Frische. Das Zirbenholz aus dem Ötztal wird dafür fein gehobelt, mazeriert und anschließend gebrannt.
LATSCHE – TYPISCH TIROL
In gewissen Regionen der Alpen findet die Schnapskultur einen ganz besonderen Ausdruck – so etwa in Tirol. So gilt es in der Region bis heute als unhöflich, wenn man das zur Begrüßung angebotene »Schnapserl« ablehnt. Auch wenn die typischen Brände aus Tirol ihr Aroma nicht unbedingt von Kiefernzapfen erhalten, entsteht hier eine vielbeachtete Version dieser Spezialität. Der Zapfenstreich-Latschenlikör wird – wie der Name schon sagt – nicht mit den Zapfen der Zirbelkiefer hergestellt, sondern mit denen der Bergkiefer, die lokal Latsche genannt wird. Bekannt ist diese insbesondere ihrer heilenden Wirkung wegen. Das Latschenkiefernöl wird mitunter eingesetzt, um festsitzenden Schleim aus den Bronchien zu lösen, die Durchblutung der Haut anzuregen oder verspannte Muskeln zu lockern. Trotzdem oder vielleicht auch gerade deswegen steht die Latschenkiefer unter Naturschutz. Die jungen Macher des Zapfenstreichs, Michael Moser und Maximilian Obergruber,
haben eine exklusive Ausnahmebewilligung für das Sammeln der Latschenzapfen im Naturpark Karwendel. Im Gegenzug fließt ein Teil ihrer Einnahmen wiederum in den Naturschutz. Das Rezept für ihren Latschenlikör stammt von Michael Mosers Familie – schon sein Urgroßvater hat diesen auf dieselbe Art und Weise hergestellt. Die findigen Jungunternehmer aber schaffen es, die Spezialität auch jungen Genießerinnen und Genießern schmackhaft zu machen. Etwa mit der Ausarbeitung von Cocktailrezepten – darunter ein Latschen-Gin-Tonic oder ein Latschen-Negroni.
VIELFÄLTIGE ALPENDESTILLATE
Die Schnapskultur der Alpen nur auf Kiefernschnäpse zu reduzieren wäre natürlich falsch. Nicht wenige Betriebe bieten eine unglaubliche Vielfalt von erstklassigen Edelbränden an. Zu den Traditionsbetrieben in Salzburg gehört die Likör- und Punschmanufaktur Sporer. Seit 1903 betreiben die Sporers in der Getreidegasse ihr Traditionsunternehmen, das nicht nur zu einer gemütlichen Einkehr einlädt, sondern auch zu einer ausgedehnten Verkostung. Natürlich ist hier auch ein Zirbenschnaps zu haben, produziert werden aber genauso klassische Fruchtbrände, Kräuterbitter, nicht weniger als 22 verschiedene Liköre und natürlich der legendäre Sporer-Punsch. Eine andere besondere Spezialität des Hauses ist der Likör Wildschütz-Edition. Michael Sporer vereint in diesem Holunderblüte mit Zirbe – eine raffinierte, wild-sanfte Kreation, die nicht nur zum Feiern taugt. Alle Produkte gibt es im Stammhaus in der Getreidegasse und in der schön designten Sporer-Manufaktur.
Innovation und Kreativität sind für das Überleben in den Alpen elementar – das beweisen nicht nur die perfekt an ihre Umgebung angepassten Kiefernarten des Hochgebirges. Wer sich mit der Brennkunst allgemein auseinandersetzt, kommt um die Alpenregionen nicht herum. Die Brennerei Rochelt in Innsbruck, die insbesondere
dank ihrer legendären Fruchtbrände weltweit Kultstatus genießt, ist eindeutig aus der Spirituosentradition der Alpen entstanden. Auch neue Projekte zeugen davon. Etwa die Walser Brennkammer in Wals bei Salzburg, die dem Walser Birnbaum als Wahrzeichen der Gemeinde huldigt und erstklassige Brände nicht nur aus diesem Obst herstellt. Zu den besonderen Innovationen der Alpenbrenner gehört der Whisky, der mittlerweile in verschiedenen Regionen auf hohem Niveau hergestellt wird. Die Schweiz beispielsweise wurde nicht umsonst schon wiederholt als Highlands Mitteleuropas bezeichnet. Neuesten Zuspruch erhielt diese Aussage mit der Eröffnung der modernen Macardo-Destillerie bei Strohwilen im Kanton Thurgau. Mit Blick auf den Säntis – den höchsten Berg des Ostschweizer Alpsteingebirges – produziert hier der österreichische Brennmeister Bartholomäus Fink Whiskys und andere Brände auf Top-Niveau. Gemeinsam mit Inhaber und Spirituosen-Enthusiast Andy Bussöw ist dieser stets auf der Suche nach Produktinnovationen. So produzieren die beiden etwa einen Schweizer Bourbon, der aus rechtlichen Gründen und dem Standort im Kanton Thurgau Thurbon genannt wird. Verwendet wird hierfür lokal angebauter Mais und das Wasser für den Prozess stammt aus einer eigenen Quelle. Ein geistreiches Terroirprodukt, erschaffen zwischen
< dem Bodensee und den Voralpen.