Grantig sind nur die Möwen
Grado in der Vorsaison, das ist die wunderbare Stille vor dem Sommersturm. Ein Ruhebericht.
Die Möwen, mögen sie jetzt Emma oder Jonathan heißen, tragen einen Mordsgrant in ihrem Federkleid spazieren. Weil: Keine Touristen am Strand von Grado. Bedeutet: Niemand zum Ärgern, keine gefladerten Leckerlis aus Strandtaschen. Nur einige einheimische Kinder stiefeln durch den Sand. Doch bei denen ist nichts zu holen außer Tritten. Der taubengraue Himmel über Grado passt zur miesen Möwenlaune. Blöde Vorsaison!
Die spinnen ja, die Möwen! Wunderbare Vorsaison! In den Wochen, bevor das knapp 9000Einwohner-Städtchen zur lebhaften österreichischen Riviera mutiert, herrscht noch entspannte Ruhe in den engen Gassen der Altstadt und an der weitläufigen Strandpromenade. Die drei Strände – Spiaggia Principale, Costa Azzurra und der Strand von Pineta – sind von einer filigranen Nebeldecke umhüllt. Feiner Nieselregen tröpfelt aus dem Taubenhimmel. Das „Key West“, ein Strandlokal, hat geschlossen.
Die Einheimischen haben jetzt noch das Zepter in der Hand. In der Osteria auf der Piazza Duca D’Aosta führen Fischer das große Wort und laden auch den Fremden zu einem Glas Hauswein ein. Dazu werden, ähnlich wie im nahe gelegenen Venedig, Cicchetti gereicht – kleine Happen mit Fisch, Fleisch oder Gemüse. Mit diesen Köstlichkeiten im Magen kann man auch die Erzählungen des „stolzen Gradesers“, der eine Adolf-Büste zu Hause hat, die er täglich abstaubt, besser verdauen. „Hören Sie ihm nicht zu“, winkt der Kellner unwirsch und zeichnet einen großen Vogel in die Luft. „Trinken Sie lieber noch ein Glas Wein.“
Der Sehnsuchtsort
Grado war und ist nicht nur eine Stadt. Grado war und ist auch Geografie gewordene Sehnsucht. Sehnsucht nach Sommer, nach Meer, nach den ersten Sonnenstrahlen auf der winterkalten Haut. Sehnsucht auch nach dem ersten Cappuccino im Freien, nach dem ersten Gelato Al Limon, mitdemmansich die Finger bekleckert. Und Appetit! Appetit auf den berühmten Gradeser Boreto. Es gibt mehr als 30 verschiedene Arten dieser Fischsuppe, je nach Jahreszeit sind andere Fischarten darin enthalten.
Am Hafen, dem Porto Mandracchio, hocken jetzt die Fischer, die vorher in der Osteria ihren Durst gelöscht haben, neben ihren Booten und bringen diese auf Vordermann. Netze werden geflickt, Holz lackiert, Motoren geölt. Auch hier die Ruhe vor dem Touristensturm, der im ehemaligen kaiserlichköniglichen Seebad wieder die Wogen hochgehen lässt.
Die Fähre zur Insel Barbana ist fast leer. Zur Wallfahrtskirche mit der Statue der Madonna mit dem Kinde pilgern alljährlich am ersten Sonntag im Juli die Fischer von Grado. Plötzlich wechselt der Himmel binnen Minuten seine Farbe. Aus dem Taubengrau wird ein lichtesWeiß, aus diesem kämpfen sich zaghaft die ersten Sonnenstrahlen durch. Und der einzige Tourist auf der Fähre ist unvorsichtig genug, ein Panino auszupacken. Emma und Jonathan stürzen sich sofort auf die Krümel. Ende der Vorsaison!